Ein Plädoyer für tiefergehende Organisationsentwicklung jenseits agiler Methodiken
Wenn ich in meiner Arbeit als systemischer Organisationsberater mit Führungskräften spreche, höre ich oft das gleiche Muster: „Wir sind jetzt agil aufgestellt“ oder „Wir haben Scrum eingeführt“. Doch wenn ich nachfrage, wie es um die tieferliegenden Strukturen, das wirkliche kritische Denken oder die psychologische Sicherheit bestellt ist, ernte ich häufig Schweigen oder Ausweichmanöver. Da wird mir klar, dass wir in eine Falle tappen – eine „Agilität als Lösung für alles“-Falle, die den Blick auf wesentliche Entwicklungsfelder verstellt.
Warum Agilität allein nicht ausreicht
Agilität ist wertvoll, keine Frage. Die Fähigkeit, „angemessen schnell auf Umweltreize zu reagieren und pragmatische Lösungen für die nächsten Schritte zu finden“, wie es ein Forschungsdokument zur agilen Selbstorganisation formuliert, ist in unserer volatilen Welt unerlässlich. Aber ich habe in vielen Organisationen erlebt, dass die alleinige Fokussierung auf agile Methoden zu kurz greift, und das aus mehreren Gründen:
- Agilität behandelt oft nur die Oberfläche, nicht die tieferen systemischen Muster und Dynamiken einer Organisation.
- Selbstorganisation braucht mehr als Methoden – sie braucht eine grundlegende Neuausrichtung von Vertrauen, Führung und Entscheidungsfindung.
- Die soziale Dimension wird vernachlässigt, während der Prozessoptimierung überproportional viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Sehen Sie, in meiner Beratungspraxis begegne ich regelmäßig Unternehmen, die zwar Kanban-Boards installiert und Daily Stand-ups eingeführt haben, aber in ihren grundlegenden Denkstrukturen unverändert hierarchisch, kontrollierend und misstrauisch geblieben sind. Die Methode wurde implementiert, aber die Haltung dahinter nicht verstanden oder gelebt.
Der soziotechnische Ansatz: Die vergessene Dimension
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir zurück zu den Wurzeln der Organisationsentwicklung gehen müssen – zum soziotechnischen Systemansatz. Dieser erkennt an, dass effektive Organisationen eine optimale Kombination von menschlichen (sozialen) und technischen Systemen benötigen. Die soziotechnische Systemtheorie betont, dass eine rein technische Einführung neuer Methoden – sei es Agilität oder etwas anderes – das soziale System oft ignoriert und dadurch neue Probleme schafft.
Was bedeutet das konkret? Ein Beispiel: Ein Technologieunternehmen, mit dem ich gearbeitet habe, führte agile Entwicklungsmethoden ein, ohne die Gruppenbeziehungen und -dynamiken zu berücksichtigen. Die Teams wurden nach rein funktionalen Aspekten zusammengestellt, ohne Rücksicht auf gewachsene Beziehungen. Das Ergebnis war verheerend – trotz „agiler“ Methoden brach die Kommunikation zusammen, Konflikte eskalierten, und die Produktivität sank drastisch.
In einem soziotechnischen Ansatz hätte man erkannt, dass Teams aufgrund ihrer Beziehungen oft eine natürliche Arbeitsorganisation bilden. Die Bedeutung der Gruppe und ihrer Beziehungen für die produktive Strukturierung der Arbeitsorganisation ist fundamental. Eine Aufgabe sollte, wie es treffend formuliert wurde, „für sich genommen Sinn machen und in sich ganzheitlich abgeschlossen sein; einen klaren Bezug zur Primäraufgabe haben; durch die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst reguliert und kontrolliert werden können.“
Bonhoeffers Warnung: Die Theorie der Dummheit in Organisationen
Jetzt kommen wir zu einem Aspekt, der mich in den letzten Jahren zunehmend beschäftigt: Wie können wir verhindern, dass Organisationen zu Brutstätten von dem werden, was Dietrich Bonhoeffer so treffend als „Dummheit“ bezeichnet hat? Damit meine ich nicht einen intellektuellen Mangel, sondern eine soziale und psychologische Kategorie – eine Form der Unselbstständigkeit und unreflektierten Anpassung.
Bonhoeffer schreibt: „Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt.“
Sehen Sie das Muster? In vielen Organisationen erlebe ich genau dieses Phänomen: Menschen übernehmen unreflektiert Schlagworte („Wir müssen digital transformieren!“, „Agilität ist alternativlos!“), ohne deren tiefere Bedeutung zu hinterfragen oder kritisch zu reflektieren. Sie werden, um mit Bonhoeffer zu sprechen, zu „willenlosen Instrumenten“ – und das ist gefährlich, denn so wird „der Dumme auch zu allem Bösen fähig […] und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen.“
Kritisches Denken als Weg aus der „Dummheitsfalle“
Was können wir also tun? Aus meiner Sicht ist kritisches Denken der Schlüssel. Es umfasst das Hinterfragen gängiger Überzeugungen, die Analyse von Informationen, das Erkennen von Fehlern in Argumentationen und die Entwicklung logischer Schlussfolgerungen. Es ist eine Schlüsselkompetenz, die wir in unseren Organisationen systematisch fördern müssen.
Dabei hilft die Gegenüberstellung zweier Denkhaltungen:
- „Denken und handeln wie Prediger, Ankläger, Politiker“ (dogmatisch, voreingenommen)
- „Neugier entwickeln, Denken wie Wissenschaftler“ (offen, reflexiv, fragend)
Ich habe in meiner Arbeit erlebt, wie transformativ es sein kann, wenn Organisationen beginnen, sokratisches Fragen zu praktizieren – das Stellen der richtigen Fragen, um tiefer in Sachverhalte einzudringen und Annahmen zu hinterfragen. Dieser Ansatz schafft eine Kultur der Reflexion statt blinder Gefolgschaft.
Psychologische Sicherheit als Grundlage kritischen Denkens
Doch kritisches Denken kann nur in einem Umfeld gedeihen, das psychologische Sicherheit bietet. Menschen müssen sich sicher fühlen, um Fragen zu stellen, Annahmen zu hinterfragen und Bedenken zu äußern, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.
In einem der innovativsten Unternehmen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, wurde diese psychologische Sicherheit systematisch gefördert. Fehler wurden nicht bestraft, sondern als Lernchancen betrachtet. Kritische Fragen wurden willkommen geheißen, auch wenn sie unbequem waren. Führungskräfte zeigten Verletzlichkeit und gaben eigene Unsicherheiten zu. Das Ergebnis? Eine Kultur echter Innovation und kontinuierlicher Verbesserung, weit jenseits oberflächlicher agiler Rituale.
Wie ein Forschungsdokument zur agilen Selbstorganisation betont: „Vertrauen in die Mitarbeiter ist ein wesentlicher Faktor für Eigeninitiative und höhere Produktivität.“ Ich würde hinzufügen: Es ist auch die Grundlage für kritisches Denken und echte Organisationsentwicklung.
Der Weg nach vorne: Integration statt Fragmentierung
Was wir brauchen, ist eine integrierte Sichtweise auf Organisationsentwicklung, die agile Methoden, soziotechnisches Systemdenken und die Förderung kritischen Denkens in einer psychologisch sicheren Umgebung verbindet. Ein solcher Ansatz würde:
- Agile Methoden als Werkzeuge betrachten, nicht als Selbstzweck.
- Die soziale Dimension von Organisationen in den Mittelpunkt stellen.
- Kritisches Denken und reflexive Praxis auf allen Ebenen fördern.
- Psychologische Sicherheit als Grundvoraussetzung für Innovation und Entwicklung etablieren.
- Führungskräfte zu Vorbildern kritischen Denkens und offener Kommunikation machen.
In den Worten eines Dokuments zur soziotechnischen Systemgestaltung: Menschen sind „von Natur aus neugierig, interessiert und soziale Wesen, die Handlungsfreiräume benötigen, um ihre Fähigkeiten zu entfalten, Verantwortung zu übernehmen und Initiative zu zeigen.“ Genau diese natürlichen Tendenzen sollten wir nutzen und fördern.

3 tägliche Habits für Führungskräfte
Abschließend möchte ich drei tägliche Gewohnheiten vorschlagen, die Führungskräfte entwickeln können, um den Weg zu einer reflexiveren, kritischeren und psychologisch sichereren Organisation zu ebnen:
1. Die tägliche Reflexionszeit (10 Minuten)
Nehmen Sie sich jeden Morgen 10 Minuten Zeit, um Ihre eigenen Annahmen und Überzeugungen zu reflektieren. Fragen Sie sich: Welche meiner Überzeugungen halte ich für selbstverständlich? Welche Evidenz habe ich dafür? Welche alternativen Perspektiven könnte es geben? Diese Praxis schärft Ihr eigenes kritisches Denken und macht Sie zum Vorbild für andere.
2. Die tägliche neugierige Frage (10 Minuten)
Stellen Sie jeden Tag mindestens eine tiefgehende, neugierige Frage an ein Teammitglied – eine Frage, die nicht auf eine bestimmte Antwort abzielt, sondern echtes Interesse und Offenheit signalisiert. Zum Beispiel: „Was siehst du an dieser Situation, das ich vielleicht übersehe?“ oder „Welche Annahmen treffen wir hier, die wir hinterfragen sollten?“ Diese Praxis fördert kritisches Denken im Team und signalisiert, dass Fragen willkommen sind.
3. Die tägliche Verwundbarkeitsübung (10 Minuten)
Teilen Sie täglich eine eigene Unsicherheit, einen Zweifel oder ein Lernfeld mit Ihrem Team. Dies könnte so einfach sein wie „Ich bin mir nicht sicher, ob meine Entscheidung gestern optimal war“ oder „Ich verstehe diesen Aspekt unseres Projekts noch nicht vollständig.“ Diese Praxis baut psychologische Sicherheit auf, indem sie zeigt, dass Perfektion nicht erwartet wird und dass Lernen ein kontinuierlicher Prozess ist.
Diese drei 10-Minuten-Habits kosten insgesamt nur 30 Minuten pro Tag, können aber eine transformative Wirkung auf Ihre Führung und Ihre Organisation haben. Sie legen die Grundlage für einen tieferen, reflexiveren Ansatz, der über oberflächliche Agilität hinausgeht und echte, nachhaltige Entwicklung fördert.
Quellenverzeichnis
- Bonhoeffer, D. (1953): Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft . München: Christian Kaiser Verlag .
- Emery, F.E., & Trist, E.L. (1960): „Sociotechnical Systems“. In: Management Science , Vol. 6, Nr. 4, pp. 587–605.
- Hackman, J.R. (1987): „The Design of Work Teams“. In: Handbook of Organizational Behavior , edited by J.W. Lorsch. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.
- Senge, P.M. (1990): The Fifth Discipline: The Art and Practice of the Learning Organization . New York: Doubleday/Currency .
- Snowden, D.J., & Boone, M.E. (2007): „A Leader’s Framework for Decision Making“. In: Harvard Business Review , November 2007, pp. 68–76.
- Trist, E.L. (1981): „The Evolution of Socio-Technical Systems“. In: Perspectives on Organizational Design , edited by A.H. Van de Ven und W.F. Joyce. New York: Wiley .