Wenn ich über Hierarchien in Organisationen nachdenke, kommt mir immer wieder ein Gedanke, der mich nicht loslässt: Was, wenn unsere Bemühungen um „flache Hierarchien“ nur eine moderne Selbsttäuschung sind – ein Versuch, die unvermeidliche Komplexität zu kaschieren, anstatt sie wirklich zu bewältigen?
Ich komme aus der Praxis, und was ich dort beobachte, entspricht selten den glatten Theorien der Managementliteratur. Formale Hierarchien bilden nur die sichtbare Oberfläche, während die eigentlichen Entscheidungswege durch unsichtbare Beziehungsnetzwerke und Kommunikationsmuster geprägt sind, die sich organisch entwickeln. Diese Erkenntnis verändert fundamental, wie wir über Organisationsstrukturen nachdenken sollten.
Wenn wir das systemisch betrachten, erkennen wir: Hierarchie ist nicht das Problem – sie ist eine natürliche Antwort auf Komplexität. Aber statt diese Erkenntnis anzunehmen, versuchen wir krampfhaft, etwas zu „verflachen“, was seiner Natur nach vielschichtig ist.
Was ich in zahlreichen Transformationsprojekten beobachtet habe, ist ein faszinierendes Paradoxon: Die Reduzierung von Hierarchieebenen führt oft zu einer regelrechten Explosion von Regeln und Prozessen. Es scheint, als würde die Organisation den Kontrollverlust durch die fehlenden Hierarchieebenen mit einem Mehr an Strukturierung kompensieren wollen. Wir bauen die formale Pyramide ab, nur um sie durch ein dichtes Netz von Policies und Compliance-Vorgaben zu ersetzen, die letztlich genauso einschränkend wirken können.
Und was passiert dann? Je mehr formale Hierarchieebenen abgebaut werden, desto stärker bilden sich informelle Machtzentren. Diese neuen Kraftfelder sind weniger transparent und oft schwerer zu beeinflussen als die alten Hierarchien. Wir tauschen also sichtbare Strukturen gegen unsichtbare – ist das wirklich ein Fortschritt?
Das verändert auch fundamental die Rolle von Führungskräften. In diesem neuen Kontext werden sie zu „Kontextgestaltern“, die primär Rahmenbedingungen für Selbstorganisation schaffen, statt direkt einzugreifen. Sie orchestrieren das System, ohne es zu kontrollieren. Das erfordert ein völlig anderes Führungsverständnis und -verhalten als das, was wir aus traditionellen Hierarchien kennen. Führung bedeutet hier nicht mehr Kontrolle, sondern das Schaffen von Bedingungen, unter denen das System sich selbst organisieren kann.
Hieraus ergibt sich eine provokative Gegenthese zur aktuellen „Verflachungs-Manie“: Wir brauchen nicht weniger, sondern bewusstere Hierarchien – Strukturen, die nicht Komplexität reduzieren, sondern das Aushalten von Komplexität ermöglichen und Orientierung bieten, ohne die Lebendigkeit des Systems zu ersticken. Es geht nicht darum, Komplexität zu vereinfachen oder wegzuorganisieren, sondern darum, Systeme zu schaffen, die mit dieser Komplexität produktiv umgehen können.
Bevor Organisationen sich auf den oft beschwerlichen Weg der Hierarchie-Transformation begeben, sollten sie sich zwei entscheidende systemische Fragen stellen:
Erstens: Wie fließen tatsächlich Informationen in unserem System, und welche strukturellen Elemente fördern oder behindern diesen Fluss? Diese Frage richtet den Blick weg von formalen Organigrammen hin zu den tatsächlichen Kommunikations- und Entscheidungswegen. Oft werden wir überrascht sein, wie wenig diese mit den offiziellen Strukturen übereinstimmen.
Zweitens: Welche Funktionen erfüllen unsere aktuellen hierarchischen Strukturen jenseits von offensichtlichen Reporting-Linien, und was würde passieren, wenn diese Funktionen wegfallen? Hier geht es um die oft übersehenen latenten Funktionen von Hierarchien – sei es die Absorption von Unsicherheit, die Bereitstellung von Orientierung oder die Ermöglichung von Identifikation. Wenn wir diese Funktionen nicht erkennen, werden sie uns beim Umbau der Organisation als unerwartete Widerstände begegnen.
3×10-Minuten-Gewohnheiten für Führungskräfte jenseits traditioneller Hierarchien
Für Führungskräfte, die in diesem neuen Verständnis von Hierarchie wirksam sein wollen, habe ich neun tägliche Gewohnheiten identifiziert, die in drei Kategorien eingeteilt werden können. Jede dieser Gewohnheiten benötigt nicht mehr als 10 Minuten täglich, kann aber langfristig die Effektivität und das Systemverständnis erheblich verbessern:
Netzwerk & Informationsfluss verstehen
- Regelmäßige Netzwerkanalyse: Nehmen Sie sich täglich 10 Minuten Zeit, um darüber zu reflektieren, wer mit wem wie kommuniziert. Skizzieren Sie mentale Karten der tatsächlichen Informationsflüsse.
- Grenzen überschreiten: Führen Sie jeden Tag mindestens ein Gespräch über Abteilungsgrenzen hinweg, um blinde Flecken zu reduzieren.
- Bewusstes Nichtwissen praktizieren: Stellen Sie täglich eine Frage, auf die Sie selbst keine Antwort haben – das öffnet Räume für emergente Lösungen.
Perspektiven & Zuhören vertiefen
- Perspektivwechsel üben: Betrachten Sie jeden Tag eine anstehende Entscheidung aus der Sicht verschiedener Stakeholder und System-Elemente.
- Aktives Zuhören praktizieren: Führen Sie täglich ein Gespräch ohne eigene Agenda, nur mit dem Ziel zu verstehen.
- Reflexionszeit einplanen: Reservieren Sie täglich 15 Minuten für die systemische Betrachtung Ihrer Organisation – ohne unmittelbaren Handlungsdruck.
Muster durchbrechen & Selbstreflexion
- Musterunterbrechung: Gestalten Sie jeden Tag bewusst eine Routine anders, um festgefahrene Denk- und Verhaltensweisen zu durchbrechen.
- Feedback einholen: Fragen Sie täglich jemanden nach seiner Perspektive auf eine Situation oder Entscheidung.
- Selbstbeobachtung praktizieren: Reflektieren Sie täglich Ihre eigenen emotionalen Reaktionen auf organisatorische Dynamiken – sie sind wichtige Datenquellen für das Systemverständnis.
Der Blick nach vorn
Vielleicht besteht die Kunst nicht darin, Hierarchien abzuschaffen, sondern sie bewusst zu gestalten – als Gefäße, die Komplexität nicht reduzieren, sondern handhabbar machen. Die Debatte um flache versus steile Hierarchien greift zu kurz, wenn sie die eigentliche Funktion von Organisationsstrukturen verkennt: nicht Kontrolle auszuüben, sondern Orientierung zu bieten und Komplexität zu kanalisieren.
In diesem Sinne lade ich Sie ein, nicht nach der „richtigen“ Hierarchieform zu suchen, sondern nach der für Ihren Kontext passenden Art, wie ein soziales System sich selbst organisieren kann. Denn letztlich sind Hierarchien nicht das Problem – es ist unser Umgang mit ihnen, der den Unterschied macht.
