Die unsichtbaren Fäden: Wie verdeckte Dynamiken Ihr Unternehmen steuern

Warum die wichtigsten Entscheidungen nicht im Konferenzraum fallen – ein Leitfaden für Führungskräfte

Ich komme aus der Praxis der systemischen Organisationsentwicklung und wenn ich ehrlich bin, hat mich eine Beobachtung in den letzten Jahren immer wieder verblüfft: Die meisten Führungskräfte kennen ihre eigene Organisation nicht wirklich. Sie verstehen die offiziellen Strukturen, können das Organigramm auswendig und kennen die Prozesshandbücher – aber die wirklichen Entscheidungswege, die informellen Machtzentren und die ungeschriebenen Regeln, die den Alltag prägen? Da wird es oft überraschend still.

Lassen Sie uns das mal konkret anschauen: Letzte Woche saß ich mit einem Geschäftsführer zusammen, der mir stolz sein neues Change-Management-Programm präsentierte. Alles durchdacht, methodisch sauber, mit allen Stakeholdern abgestimmt. Drei Monate später stand das Projekt praktisch still. Der Grund? Eine kleine Gruppe langjähriger Mitarbeiter hatte in der Kantine beschlossen, dass „dieser ganze Digitalisierungskram“ sowieso nicht funktioniert. Ohne Widerstand zu artikulieren, ohne offene Verweigerung – sie haben das Projekt einfach durch passive Nichtteilnahme ausgehebelt.

Was wirklich in Organisationen passiert

Das, was da ablief, nennen wir in der Systemtheorie „verdeckte Dynamiken“ – und wenn wir das systemisch betrachten, wird schnell klar: Jede Organisation funktioniert auf mindestens zwei Ebenen gleichzeitig. Da ist einmal die offizielle Ebene mit ihren Hierarchien, Prozessen und dokumentierten Abläufen. Und da ist die informelle Ebene, auf der die eigentlichen Entscheidungen fallen.

Niklas Luhmann hat das mal sehr treffend formuliert: Organisationen sind „autopoietische Kommunikationssysteme“ – sie erschaffen sich permanent selbst durch ihre eigenen Kommunikationsmuster. Das klingt zunächst abstrakt, aber wenn Sie mal genau hinschauen, verstehen Sie schnell, was er meint. Ihr Unternehmen reproduziert täglich bestimmte Denk- und Handlungsmuster, ohne dass jemand das bewusst steuert. Diese Muster sind oft unsichtbar, aber sie bestimmen, was wirklich passiert.

Ich erinnere mich an ein mittelständisches Technologieunternehmen, wo der CEO nicht verstehen konnte, warum die Kommunikation zwischen den Abteilungen nicht funktionierte. Er hatte extra ein neues Collaboration-Tool eingeführt und regelmäßige Abstimmungsrunden etabliert. Als wir dann eine systematische Netzwerkanalyse machten, zeigte sich das eigentliche Problem: Die Entwickler holten sich ihre Informationen hauptsächlich bei zwei informellen „Tech-Gurus“, die Marketing-Leute hatten ihr eigenes Netzwerk aufgebaut, und die Geschäftsführung war praktisch isoliert. Das offizielle System funktionierte auf dem Papier – das informelle System folgte ganz anderen Regeln.

Die drei Gesichter der verdeckten Macht

Aus der Erfahrung heraus kann ich sagen, dass sich verdeckte Dynamiken in drei hauptsächlichen Formen zeigen:

Erstens: Die informellen Netzwerke. In jedem Unternehmen gibt es Menschen, die nicht durch ihre Position, sondern durch ihre Beziehungen Einfluss haben. Das sind oft langjährige Mitarbeiter, die „jeden kennen“, oder Spezialisten, die über kritisches Wissen verfügen. Dr. Julia Brennecke hat in ihrer Forschung gezeigt, wie man diese Netzwerke sichtbar machen kann – und das ist diskutierbar wichtiger als jede Hierarchie, weil hier die eigentliche Arbeit passiert.

Zweitens: Die ungeschriebenen Regeln. Lassen Sie uns das mal konkret anschauen: Niemand verlässt das Büro vor dem Chef. E-Mails werden auch im Urlaub beantwortet. Kritik wird nie direkt geäußert, sondern über Umwege transportiert. Diese Regeln stehen in keinem Handbuch, aber sie prägen die Unternehmenskultur stärker als jedes offizielle Werteprogramm. Ich habe schon erlebt, dass Geschäftsleitungen überrascht waren, als sie hörten, welche stillen Normen in ihrem eigenen Unternehmen galten.

Drittens: Die mikropolitischen Strukturen. Das ist der Bereich, den viele Führungskräfte am liebsten ignorieren würden – aber das funktioniert in der Praxis so nicht. Menschen bauen Allianzen, tauschen Gefälligkeiten aus, nutzen Informationsvorsprünge. Sie machen das nicht aus Bosheit, sondern weil es menschlich ist. Wenn wir das systemisch betrachten, erkennen wir: Mikropolitik ist nicht das Problem – sie ist ein natürlicher Bestandteil jeder Organisation. Das Problem entsteht erst, wenn sie im Verborgenen bleibt und nicht konstruktiv genutzt wird.

Praktische Werkzeuge für mehr Durchblick

Da müssen wir differenzieren zwischen dem, was theoretisch möglich ist, und dem, was praktisch funktioniert. Ich nutze in meiner Beratung verschiedene Methoden, um diese verdeckten Strukturen sichtbar zu machen:

Die Netzwerkanalyse ist wahrscheinlich das mächtigste Werkzeug. Mit einem systematischen Fragebogen erfassen wir, wer mit wem kommuniziert, wer wen um Rat fragt, wer mit wem zusammenarbeitet. Die Ergebnisse visualisieren wir dann als Netzwerkdiagramm – und plötzlich wird sichtbar, wo die wirklichen Informationsflüsse laufen, wo Bottlenecks entstehen und welche Teams isoliert sind.

Systemische Aufstellungen funktionieren überraschend gut, auch wenn sie zunächst esoterisch wirken mögen. Wir lassen Mitarbeiter stellvertretend für verschiedene Unternehmensbereiche Positionen im Raum einnehmen – und es ist verblüffend, wie schnell sich dadurch verborgene Spannungen und Abhängigkeiten zeigen. Ich nenne es mal so: Der Körper weiß oft mehr als der Kopf.

Exit-Interviews sind eine Goldgrube für ehrliche Einblicke. Menschen, die das Unternehmen verlassen, sprechen oft offener über die ungeschriebenen Regeln und verborgenen Konflikte. Ebenso aufschlussreich sind Gespräche mit neuen Mitarbeitern – sie nehmen die impliziten Muster noch wahr, bevor sie sich daran gewöhnt haben.

Die Kunst der Beobachtung zweiter Ordnung

Hier wird es methodisch interessant, und das ist ein Punkt, den viele Führungskräfte unterschätzen: Um verdeckte Dynamiken zu verstehen, müssen Sie lernen, sich selbst beim Beobachten zu beobachten. Heinz von Foerster nennt das „Kybernetik zweiter Ordnung“ – Sie reflektieren nicht nur, was Sie sehen, sondern auch, warum Sie es so sehen.

Aus der Erfahrung heraus kann ich sagen: Die meisten blinden Flecken entstehen nicht dadurch, dass Informationen fehlen, sondern dadurch, dass wir sie durch unsere eigenen Filter wahrnehmen. Wenn Sie als Geschäftsführer durch die Abteilungen gehen, sehen Sie etwas anderes als der Teamleiter, und der sieht wieder etwas anderes als der neue Praktikant. Alle haben recht – aber alle sehen nur einen Ausschnitt.

Das funktioniert in der Praxis so: Wir führen regelmäßig „Perspektiven-Dialoge“ durch, in denen verschiedene Hierarchieebenen ihre Wahrnehmung der gleichen Situation schildern. Ohne Bewertung, ohne Rechtfertigung – einfach nur: Wie sehen Sie das? Diese Gespräche decken oft erstaunliche Unterschiede auf und helfen dabei, die verschiedenen „Realitäten“ im Unternehmen zu verstehen.

Drei Gewohnheiten für mehr systemische Klarheit

Lassen Sie uns das mal praktisch machen. Hier sind drei täglich anwendbare Gewohnheiten, die Ihnen helfen, die verdeckten Dynamiken in Ihrem Unternehmen besser zu verstehen:

1. Der 10-Minuten-Netzwerk-Check (morgens): Beginnen Sie Ihren Tag mit der Frage: Mit wem werde ich heute kommunizieren, und über welche Kanäle laufen diese Gespräche wirklich? Notieren Sie sich eine Woche lang alle informellen Kontakte – Sie werden überrascht sein, wie sehr sich das von den offiziellen Kommunikationswegen unterscheidet.

2. Die Perspektiven-Pause (mittags): Halten Sie in wichtigen Gesprächen kurz inne und fragen Sie sich: Welche anderen Sichtweisen könnte es auf diese Situation geben? Wie würde das der Mitarbeiter an der Basis sehen? Wie der Kunde? Wie jemand aus einer anderen Abteilung? Diese kleine Übung erweitert systematisch Ihren Blickwinkel.

3. Der Regel-Radar (abends): Fragen Sie sich am Ende des Tages: Welche ungeschriebenen Regeln habe ich heute beobachtet? Was wurde nicht gesagt, aber trotzdem kommuniziert? Welche informellen Normen haben das Verhalten geprägt? Führen Sie dazu eine kleine Liste – nach einem Monat haben Sie ein faszinierendes Bild der wirklichen Unternehmenskultur.

Der Umgang mit dem Unsichtbaren

Das ist diskutierbar, aber aus meiner Sicht liegt hier der entscheidende Punkt: Es geht nicht darum, die verdeckten Dynamiken zu eliminieren – das wäre weder möglich noch sinnvoll. Es geht darum, sie sichtbar zu machen und konstruktiv zu nutzen.

Wenn Sie wissen, wo die informellen Meinungsführer sitzen, können Sie sie in Veränderungsprozesse einbeziehen. Wenn Sie die ungeschriebenen Regeln verstehen, können Sie bewusst entscheiden, welche Sie beibehalten und welche Sie verändern wollen. Wenn Sie die mikropolitischen Strukturen durchschauen, können Sie sie für die Unternehmensziele nutzbar machen, statt dass sie Ihre Pläne torpedieren.

Ich erinnere mich an einen Fall, wo ein Unternehmen eine neue Software einführen wollte. Statt den offiziellen Weg über die IT-Abteilung zu gehen, identifizierten wir zunächst die informellen „Digital Natives“ in verschiedenen Teams. Diese wurden zu internen Botschaftern gemacht – und plötzlich lief die Einführung wie am Schnürchen, weil die Akzeptanz über die informellen Kanäle aufgebaut wurde.

Was das für Sie bedeutet

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich plädiere nicht dafür, die formalen Strukturen zu vernachlässigen. Die brauchen Sie genauso. Aber wenn Sie wirklich führen wollen, müssen Sie beide Ebenen im Blick haben – die sichtbare und die unsichtbare.

Das bedeutet konkret: Investieren Sie Zeit darin, Ihr eigenes Unternehmen neu kennenzulernen. Führen Sie Gespräche mit Menschen aus verschiedenen Hierarchieebenen und Abteilungen. Beobachten Sie, wo die wirklichen Entscheidungen fallen. Machen Sie die informellen Netzwerke sichtbar und nutzen Sie sie konstruktiv.

Die wertvollste Erkenntnis aus zwanzig Jahren Organisationsentwicklung? Die Unternehmen, die ihre verdeckten Dynamiken verstehen und bewusst gestalten, sind nicht nur erfolgreicher – sie sind auch menschlicher. Sie nutzen die natürlichen Tendenzen ihrer Organisation, statt gegen sie zu arbeiten.

Beginnen Sie heute: Identifizieren Sie eine Situation in Ihrem Unternehmen, die nicht so läuft, wie sie sollte. Fragen Sie sich nicht nur „Was läuft schief?“, sondern „Welche unsichtbaren Kräfte wirken hier?“ Die Antwort wird Sie überraschen – und sie wird Ihnen neue Handlungsoptionen eröffnen.

Quellen:

Bateson, G. (1972): Steps to an Ecology of Mind. San Francisco: Chandler Publishing.

Beer, S. (1985): Diagnosing the System for Organizations. Chichester: Wiley.

Brennecke, J. (2015): Identifying and managing knowledge network configurations for innovation. In: Journal of Knowledge Management, 19(5), S. 837–850.

Foerster, H. v. (1993): Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Landsiedel, M. (2020): Soziometrie & Soziogramm – Beziehungen sichtbar machen. In: Coaching-Wissen kompakt. Hamburg: Landsiedel Verlag.

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Neuberger, O. (1995): Mikropolitik: Der alltägliche Aufbau und Einsatz von Macht in Organisationen. Stuttgart: Enke.

Schröter, S. & Wegener, A. (2020): Systemische Strukturaufstellungen in der Organisationsberatung. In: OrganisationsEntwicklung, 39(4), S. 90–97.

Simon, F.B. (2009): Einführung in die systemische Organisationstheorie. Heidelberg: Carl-Auer.

Weber, J. (2012): Organisationale Mikropolitik sichtbar machen. In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 31(2), S. 74–81.

Zimmermann, E. (2018): Verdeckte Dynamiken erkennen und nutzen – Über ungeschriebene Regeln in Organisationen. In: managerSeminare, Ausgabe 248, S. 56–63.

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