Die Kunst der organisationalen Ambidextrie: Balanceakt zwischen Bewahren und Erneuern

Ich möchte heute einen Gedanken mit euch teilen, der mir in den letzten Jahren immer wieder begegnet ist und den ich für fundamental wichtig halte in der Organisationsentwicklung: die organisationale Ambidextrie oder „Beidhändigkeit“ von Unternehmen. Wenn wir dieses Konzept systemisch betrachten, eröffnen sich faszinierende Perspektiven auf die Dynamik von Organisationen.

Der systemische Blick auf organisationale Beidhändigkeit

Als ich vor einigen Jahren mit einem mittelständischen Maschinenbauunternehmen arbeitete, wurde mir das Dilemma besonders deutlich vor Augen geführt. Der Geschäftsführer sagte zu mir: „Ich stecke in einer Zwickmühle – einerseits müssen wir unser Kerngeschäft optimieren, andererseits verpassen wir die Digitalisierung, wenn wir nicht radikal neue Wege gehen.“ Was er beschrieb, war im Kern das Ambidextrie-Problem.

Aus systemtheoretischer Sicht haben wir es hier mit einem interessanten Phänomen zu tun: Organisationen als soziale Systeme müssen gleichzeitig ihre Identität bewahren (Autopoiesis im Sinne Luhmanns) und sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen (Viabilität nach von Glasersfeld). Diese scheinbar widersprüchlichen Anforderungen – Stabilität und Wandel – spiegeln sich in der organisationalen Ambidextrie wider.

Die zwei Modi des Organisierens: Exploration und Exploitation

Wenn wir die zwei Modi näher betrachten, sehen wir fundamentale Unterschiede in der Systemlogik:

Der Exploitation-Modus (ich nenne ihn manchmal „Effizienz-Modus“) funktioniert nach einer kybernetischen Logik 1. Ordnung. Hier geht es um Zielgenauigkeit, Fehlerminimierung und Kontrolle – klassische negative Feedback-Schleifen zur Stabilisierung des Systems. Typische Bereiche sind Fertigung, Controlling oder etablierte Produkte. Die Organisation arbeitet hier mit bekannten Zielgrößen und optimiert diese kontinuierlich.

Der Explorations-Modus dagegen folgt eher einer Kybernetik 2. Ordnung. Hier beobachtet sich das System selbst bei der Beobachtung, hinterfragt seine eigenen Prämissen, experimentiert mit neuen Möglichkeiten. Es geht um positive Feedback-Schleifen, die Veränderung verstärken können – manchmal bis hin zum „Kipppunkt“ (tipping point), an dem neue Strukturen entstehen.

Diese unterschiedlichen Systemlogiken treffen in Organisationen aufeinander und erzeugen eine produktive Spannung – wenn wir sie richtig orchestrieren.

Systemische Strukturen für Ambidextrie

Aus meiner Erfahrung heraus gibt es drei Hauptwege, wie Organisationen mit dieser Spannung umgehen:

  1. Sequenzielle Ambidextrie – hier wechselt das System periodisch zwischen den Modi. Diese Oszillation kann produktiv sein, aber sie hat den Nachteil, dass die Organisation immer nur in einem Modus zu einer Zeit operiert. Ein Klient beschrieb es mir mal so: „Wir machen alle zwei Jahre einen Innovations-Workshop, und dazwischen kümmern wir uns um das Tagesgeschäft.“ Die Wirksamkeit ist begrenzt.
  2. Strukturelle Ambidextrie – hier differenziert sich das System in Subsysteme mit unterschiedlichen Logiken. Denken Sie an die klassische „Skunkworks“-Abteilung oder an Innovationslabore, die bewusst vom Kerngeschäft abgeschottet werden. Das Problem liegt hier oft in der Integration: Die Schnittstellen zwischen den Subsystemen müssen sorgfältig gestaltet werden, damit Lernen und Transfer stattfinden können.
  3. Kontextuelle Ambidextrie – hier wird die Fähigkeit zum Modus-Wechsel in die einzelnen Systemelemente (Mitarbeiter, Teams) eingebaut. Dies erfordert hochentwickelte Meta-Kompetenzen und eine entsprechende Organisationskultur.

Was ich in der Praxis beobachte, ist dass viele Organisationen mit einer Kombination dieser Ansätze am besten fahren. Die reine Lehre hilft uns hier wenig – es geht um pragmatische Lösungen, die zur spezifischen Systemdynamik passen.

Führung im ambidextren System

Als Führungskraft in einem ambidextren System bewegen Sie sich in einem permanenten Spannungsfeld. Sie müssen gleichzeitig:

  • Klarheit und Offenheit schaffen
  • Stabilität und Wandel fördern
  • Kontrolle ausüben und loslassen können
  • Das Bestehende verteidigen und in Frage stellen

Ich habe erlebt, dass viele Führungskräfte dazu neigen, in einem der Modi „zuhause“ zu sein – sie sind entweder natürliche Optimierer oder natürliche Innovatoren. Die Kunst besteht darin, den jeweils anderen Modus bewusst zu entwickeln und situativ zwischen beiden zu wechseln.

Ein Ansatz, den ich mit Führungsteams praktiziere, ist das „Modusmanagement“: Wir machen explizit, in welchem Modus wir gerade operieren, und schaffen Räume und Zeiten für beide Modi. In Meetings kann es hilfreich sein, klar zu signalisieren: „Jetzt sind wir im Explorationsmodus – Kritik und Bewertung sind suspendiert“ oder „Jetzt gehen wir in den Exploitationsmodus – wir fokussieren auf Umsetzung und Optimierung.“

Drei tägliche Habits für Führungskräfte in ambidextren Organisationen

  1. Der tägliche Moduswechsel: Nehmen Sie sich bewusst 10 Minuten Zeit, um vom Alltagsmodus (meist Exploitation) in einen Explorationsmodus zu wechseln. Stellen Sie sich Fragen wie: „Was könnte heute anders sein? Welche Annahmen könnte ich hinterfragen? Wo könnte ein Experiment wertvoll sein?“
  2. Die systemische Momentaufnahme: Nehmen Sie sich 10 Minuten, um die aktuelle Balance in Ihrem Verantwortungsbereich zu reflektieren. Wo stehen Sie auf der Skala zwischen Exploration und Exploitation? Welche Wechselwirkungen beobachten Sie zwischen diesen Modi? Welche unbeabsichtigten Nebenwirkungen entstehen?
  3. Der Perspektivwechsel: Identifizieren Sie täglich 10 Minuten lang bewusst die unterschiedlichen Perspektiven in Ihrem System. Wie sieht die Situation aus Sicht der „Bewahrer“ aus? Wie aus Sicht der „Erneuerer“? Welche legitimen Anliegen haben beide Seiten? Wie können Sie beide Perspektiven würdigen?

Die systemische Falle der einseitigen Optimierung

Aus systemtheoretischer Sicht ist es faszinierend zu beobachten, was passiert, wenn Organisationen einseitig auf einen Modus setzen. Bei reiner Exploitation entsteht oft eine hocheffiziente, aber unflexible Organisation, die den Anschluss an Veränderungen verliert – bis sie irgendwann vor einem disruptiven Wandel steht, den sie nicht mehr bewältigen kann. Bei einseitiger Exploration fehlt dagegen oft die Fähigkeit, Innovationen tatsächlich umzusetzen und wirtschaftlich zu nutzen.

Was wir anstreben sollten, ist ein „oszillierendes Gleichgewicht“ zwischen beiden Modi – kein statischer Zustand, sondern eine dynamische Balance, die sich mit den Umweltanforderungen mitbewegt.

Praktische Maßnahmen für mehr Ambidextrie

Wenn ich mit Organisationen an ihrer Ambidextrie arbeite, setzen wir typischerweise an mehreren Hebeln an:

  1. Strukturen: Schaffung von Räumen für Exploration, ohne das Kerngeschäft zu gefährden
  2. Prozesse: Etablierung unterschiedlicher Prozesse für verschiedene Modi (z.B. Stage-Gate für Exploitation, Design Thinking für Exploration)
  3. Führung: Entwicklung ambidextrer Führungskompetenzen
  4. Kultur: Förderung einer Kultur, die beide Modi wertschätzt
  5. Messsysteme: Entwicklung von Messgrößen für beide Modi (nicht nur finanzielle KPIs)

Besonders spannend finde ich die Arbeit an den Schnittstellen zwischen explorativen und exploitativen Bereichen. Hier entstehen häufig Konflikte, aber auch produktive Spannungen, die zu echten Durchbrüchen führen können.

Fazit: Der Weg zur systemischen Ambidextrie

Als Fazit möchte ich festhalten: Organisationale Ambidextrie ist aus systemischer Sicht kein Luxus, sondern eine Überlebensnotwendigkeit in komplexen, sich wandelnden Umwelten. Die Fähigkeit, gleichzeitig zu bewahren und zu erneuern, zu optimieren und zu innovieren, ist entscheidend für langfristigen Erfolg.

Der Schlüssel liegt meiner Erfahrung nach nicht in der perfekten Struktur oder dem perfekten Prozess, sondern in der Fähigkeit, bewusst mit den inhärenten Spannungen und Widersprüchen umzugehen, sie produktiv zu nutzen statt sie aufzulösen zu wollen. Das erfordert ein hohes Maß an systemischem Denken, Reflexionsfähigkeit und persönlicher Reife – auf allen Ebenen der Organisation.

Was sind eure Erfahrungen mit organisationaler Ambidextrie? Ich freue mich auf einen Austausch zu diesem spannenden Thema.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen