Wenn ich über die zahlreichen Hindernisse nachdenke, die Organisationen in ihrer Entwicklung begegnen, komme ich immer wieder auf eine fundamentale Erkenntnis zurück, die der italienische Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla bereits in den 1970er Jahren brillant formulierte: das „Grundgesetz der menschlichen Dummheit“. Ich habe dieses Konzept in zahlreichen Beratungsprojekten als überraschend nützliche Linse erlebt, durch die sich organisatorische Dysfunktionen betrachten lassen – und zwar jenseits der üblichen Erklärungsmuster von Kompetenzdefiziten oder Ressourcenmangel.
Die fünf Grundgesetze der Dummheit nach Cipolla
Lassen Sie mich zunächst Cipollas Theorie kurz umreißen, um darauf aufbauend die systemischen Implikationen zu betrachten. Cipolla definierte fünf Grundgesetze:
- Wir unterschätzen stets die Anzahl dummer Menschen – unabhängig von Status, Bildung oder Position
- Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person dumm ist, ist unabhängig von anderen Eigenschaften dieser Person
- Eine dumme Person ist jemand, der anderen Schaden zufügt, ohne selbst einen Vorteil zu erlangen oder sogar bei eigenem Schaden
- Nicht-dumme Menschen unterschätzen immer die schädliche Kraft dummer Menschen
- Die gefährlichste Person ist der intelligente Dumme (der intelligente Mensch, dessen Handlungen anderen und sich selbst schaden)
Was für mich diese Theorie so wertvoll macht, ist Cipollas Definition von Dummheit, die sich nicht auf Intelligenz bezieht, sondern auf das Verhältnis von eigenem Nutzen und dem Nutzen oder Schaden, den man anderen zufügt. Er teilt Menschen in vier Kategorien ein:
- Intelligente: Ihre Handlungen nützen ihnen selbst und anderen
- Banditen: Ihre Handlungen nützen ihnen, schaden aber anderen
- Hilflose: Ihre Handlungen schaden ihnen selbst, nützen aber anderen
- Dumme: Ihre Handlungen schaden sowohl ihnen selbst als auch anderen
Dummheit als systemisches Phänomen
Wenn wir dieses Modell nun durch die Brille der systemischen Organisationsentwicklung betrachten, sehen wir etwas Faszinierendes: Dummheit im Cipolla’schen Sinne ist kein individuelles, sondern ein systemisches Phänomen. Ich habe in meiner Arbeit mit Führungskräften oft beobachtet, dass „dumme Entscheidungen“ häufig das Ergebnis von Systemdynamiken sind, nicht von individueller Inkompetenz.
So entstehen in Organisationen regelrechte „Dummheitsverstärker“:
- Silodenken, das den Blick auf Gesamtzusammenhänge verhindert
- Machtdynamiken, die kritisches Feedback blockieren
- Anreizsysteme, die individuellen Erfolg belohnen, selbst wenn er dem Gesamtsystem schadet
- Informationsasymmetrien, die fundierte Entscheidungen unmöglich machen
- Gruppendynamiken, die zu kollektiver Blindheit führen
Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis: In einem mittelständischen Produktionsunternehmen führte die Vertriebsabteilung ein Bonussystem ein, das kurzfristige Verkaufserfolge belohnte. Dies führte zu einem Anstieg von Sonderanfertigungen, die zwar den Umsatz steigerten, aber die Produktion massiv störten und letztendlich die Gesamtprofitabilität senkten. Aus Cipolla’scher Sicht ein klassischer Fall von „intelligenter Dummheit“ – eine gut gemeinte Maßnahme, die sowohl dem Unternehmen als auch langfristig den Vertriebsmitarbeitern schadete.
Systemische Interventionen gegen organisationale Dummheit
Wie können wir nun diesem Phänomen begegnen? Aus meiner Erfahrung heraus gibt es mehrere wirksame Ansätze:
1. Reflexionsräume schaffen
Die wichtigste Intervention ist, regelmäßige Reflexionsräume zu etablieren, in denen die systemischen Auswirkungen von Entscheidungen betrachtet werden können. Ich nenne diese „Konsequenzworkshops“, in denen Führungskräfte gezielt die Frage diskutieren: „Wem nützt und wem schadet diese Entscheidung – kurz- und langfristig?“
In einer Bank haben wir beispielsweise einen monatlichen „Systemic Impact Review“ eingeführt, bei dem Führungskräfte bereichsübergreifend die Folgen ihrer Entscheidungen evaluieren. Dies hat die Zahl der „dummen Entscheidungen“ (im Cipolla’schen Sinne) deutlich reduziert.
2. Anreizsysteme neu gestalten
Wenn Belohnungssysteme ausschließlich individuelle oder Bereichserfolge honorieren, fördern sie Cipolla’sche Dummheit. Ein Ansatz ist die Einführung von „Systemischen KPIs“, die den Gesamterfolg und die Kooperation messen.
Beispiel: Ein Technologieunternehmen hat 30% der Bonuszahlungen an bereichsübergreifende Erfolgskennzahlen gekoppelt. Das Ergebnis war eine signifikante Zunahme der Kooperation und ein Rückgang von Entscheidungen, die anderen Abteilungen schadeten.
3. Perspektivenvielfalt institutionalisieren
Dummheit gedeiht dort, wo Perspektivenvielfalt fehlt. Die Einrichtung eines „Devil’s Advocate“ in Entscheidungsprozessen kann helfen – eine Person, deren explizite Aufgabe es ist, mögliche negative Auswirkungen zu identifizieren.
In meiner Arbeit mit einem Pharmaunternehmen haben wir „Systemische Reflexionsteams“ etabliert, in denen bewusst Mitarbeiter aus verschiedenen Hierarchieebenen und Abteilungen zusammenkommen, um Entscheidungen zu hinterfragen. Dies hat die Qualität der Entscheidungen erheblich verbessert.
4. Feedback-Kultur entwickeln
Eine offene Feedback-Kultur ist der natürliche Feind der Dummheit. Wenn Mitarbeiter ohne Angst vor Konsequenzen auf potenzielle negative Auswirkungen hinweisen können, werden dumme Entscheidungen früher erkannt.
Ein mittelständisches Produktionsunternehmen hat ein anonymes Feedback-System eingeführt, das „Systemische Frühwarnindikatoren“ sammelt. Jeder Mitarbeiter kann potenzielle negative Auswirkungen von Entscheidungen melden, ohne Repressalien befürchten zu müssen.
5. Systemisches Denken fördern
Letztlich ist die nachhaltigste Intervention die Förderung von systemischem Denken in der gesamten Organisation. Dies bedeutet, Führungskräfte und Mitarbeiter darin zu schulen, in Zusammenhängen zu denken und die Auswirkungen ihrer Handlungen auf das Gesamtsystem zu berücksichtigen.
Ein Versicherungsunternehmen hat ein „Systemisches Leadership Program“ entwickelt, in dem Führungskräfte lernen, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Unternehmensbereichen zu verstehen und ihre Entscheidungen entsprechend anzupassen.
Praktische Werkzeuge für den Umgang mit organisationaler Dummheit
Aus meiner Beratungspraxis möchte ich Ihnen einige konkrete Tools an die Hand geben:
1. Die Cipolla-Matrix als Reflexionstool
Eine einfache 2×2-Matrix mit den Achsen „Nutzen/Schaden für mich“ und „Nutzen/Schaden für andere“ kann als kraftvolles Reflexionstool dienen. Führungskräfte können geplante Entscheidungen in dieser Matrix verorten und so deren systemische Auswirkungen visualisieren.
2. Systemischer Fragenkatalog
Folgende Fragen haben sich in meiner Praxis als besonders wirksam erwiesen:
- „Wer profitiert von dieser Entscheidung kurz- und langfristig?“
- „Wer könnte durch diese Entscheidung belastet werden?“
- „Welche unbeabsichtigten Nebeneffekte könnte diese Entscheidung haben?“
- „Welche Rückkopplungsschleifen könnte diese Entscheidung auslösen?“
- „Wie würde diese Entscheidung aus der Perspektive anderer Abteilungen aussehen?“
3. Zirkuläre Stakeholder-Analyse
Bei wichtigen Entscheidungen empfehle ich eine zirkuläre Stakeholder-Analyse, bei der systematisch die Auswirkungen auf alle Beteiligten und deren wahrscheinliche Reaktionen durchgespielt werden. Dies macht die systemischen Wechselwirkungen sichtbar und verhindert „dumme“ Entscheidungen im Cipolla’schen Sinne.
4. Systemische Organisationsaufstellung
Für komplexe Entscheidungen hat sich die Methode der systemischen Organisationsaufstellung als wertvolles Instrument erwiesen. Dabei werden die verschiedenen Elemente des Systems und ihre Beziehungen zueinander räumlich dargestellt, wodurch versteckte Dynamiken sichtbar werden.
Fazit: Von der individuellen zur systemischen Intelligenz
Wenn ich auf meine langjährige Beratungserfahrung zurückblicke, wird eines deutlich: Die Überwindung von „Dummheit“ im Cipolla’schen Sinne erfordert den Übergang von individueller zu systemischer Intelligenz. Es geht nicht darum, „dumme Menschen“ zu identifizieren und zu eliminieren – ein Ansatz, der selbst dem Grundgesetz der Dummheit entsprechen würde, da er sowohl der Organisation als auch den Betroffenen schadet.
Vielmehr geht es darum, Systeme zu schaffen, die kollektive Intelligenz fördern und die natürliche Tendenz zu „dummen Entscheidungen“ durch systemische Interventionen ausgleichen. Die gute Nachricht ist: Während wir laut Cipolla die Anzahl dummer Menschen nicht reduzieren können, können wir durchaus Systeme gestalten, die weniger anfällig für dumme Entscheidungen sind.
Ich habe in meiner Praxis erlebt, dass Organisationen, die diese systemische Perspektive einnehmen, nicht nur effektiver werden, sondern auch ein angenehmeres Arbeitsumfeld schaffen – eines, in dem die natürlichen menschlichen Tendenzen nicht zu kollektivem Schaden führen, sondern in dem Strukturen existieren, die uns helfen, gemeinsam klügere Entscheidungen zu treffen.
Und ist das nicht letztlich das Ziel jeder Organisationsentwicklung? Systeme zu schaffen, die uns dabei helfen, im Cipolla’schen Sinne ein bisschen intelligenter zu handeln – zum Nutzen aller Beteiligten?
Über den Autor: Als systemischer Organisationsberater und Coach begleite ich seit über 20 Jahren Unternehmen bei komplexen Veränderungsprozessen. Mein Fokus liegt auf der Entwicklung von Führungssystemen, die kollektive Intelligenz fördern und organisationale Resilienz stärken.
Cipolla, C. M. (1988) Allegro ma non troppo . Bologna: Il Mulino.
Cipolla, C. M. (2005) The Basic Laws of Human Stupidity.