Eine systemtheoretische Betrachtung zur organisationalen Komplexität
Wenn ich heute mit Führungskräften in mittelständischen und großen Unternehmen spreche, höre ich immer wieder die gleiche Klage: „Wir ersticken in unserer eigenen Komplexität.“ Die Symptome sind fast überall identisch – schwerfällige Entscheidungsprozesse, unklare Verantwortlichkeiten, Kommunikationswege, die eher an ein Labyrinth als an eine Autobahn erinnern, und Prozesse, die aus einer Zeit zu stammen scheinen, als noch niemand von Agilität gesprochen hat.
Was mich dabei besonders interessiert, ist die systemische Perspektive auf dieses Phänomen. Denn ich komme aus der Praxis und habe erlebt, wie Organisationen mit zunehmender Größe nicht einfach nur komplexer werden – sie entwickeln etwas, das ich als „organisationales Immunsystem“ bezeichnen möchte.
Die kontroverse These: Komplexität als Selbstschutzmechanismus
Hier ist meine provokante These, über die wir nachdenken sollten: Die wachsende Komplexität in Organisationen ist kein Fehler im System, sondern ein aktiver Selbstschutzmechanismus gegen Veränderung. Anders formuliert: Viele der Ineffizienzen, über die Führungskräfte klagen, erfüllen aus systemischer Sicht durchaus einen Zweck – nämlich die Stabilisierung des Systems.
Lassen Sie uns das mal konkret anschauen. Wenn ein Unternehmen wächst, entstehen neue Abteilungen, Hierarchieebenen, Prozesse und Regeln. Diese Strukturen bilden sich nicht zufällig, sondern als Antwort auf bestimmte Herausforderungen oder Probleme. Ein Beispiel: Ein schnell wachsendes Technologieunternehmen, mit dem ich gearbeitet habe, führte einen komplexen Freigabeprozess für neue Funktionen ein, nachdem einige kostspielige Fehler passiert waren. Was als sinnvolle Maßnahme begann, entwickelte sich über die Jahre zu einem bürokratischen Monster, das Innovationen effektiv blockierte.
Das Paradoxe daran (und hier wird es systemisch interessant): Je lauter der Ruf nach „Verschlankung“ und „Effizienzsteigerung“ wurde, desto stärker schienen die komplexen Strukturen zu widerstehen. Als ob das System sagen würde: „Ich lasse mich nicht so einfach verändern.“
Die systemische Betrachtung: Komplexität in ihren Wechselwirkungen
Wenn wir das systemisch betrachten, müssen wir uns fragen: Welche Funktion erfüllt die Komplexität im Gesamtsystem? Für wen ist der Status quo eigentlich vorteilhaft? Da müssen wir differenzieren, denn was aus der Vogelperspektive als „unnötige Komplexität“ erscheint, kann auf der Mikroebene durchaus sinnvoll sein.
Ein mittleres Industrieunternehmen, bei dem ich vor einigen Jahren als Berater tätig war, hatte ein besonders aufwändiges Berichtswesen entwickelt. Jede Woche verbrachten Führungskräfte Stunden damit, Reports zu erstellen, die kaum jemand las. Als ich nachfragte, warum man das nicht vereinfache, bekam ich interessante Antworten: „Diese Reports schützen mich bei Nachfragen von oben“, „Solange ich diese Zahlen liefere, lässt man mich in Ruhe arbeiten“, „Das ist schon immer so gewesen“.
Sehen Sie? Aus systemischer Sicht hatte die vermeintliche Ineffizienz einen klaren Nutzen für bestimmte Teile des Systems. Sie schuf Sicherheit, reduzierte Unsicherheit und etablierte klare Verhaltenserwartungen. Das ist diskutierbar, aber aus der Erfahrung heraus kann ich sagen: Fast jede scheinbar unsinnige Komplexität in Organisationen erfüllt für irgendjemanden einen Zweck.
Systemische Fragen statt schneller Lösungen
Wenn wir uns dem Thema der organisationalen Komplexität annähern, sollten wir daher nicht vorschnell mit Lösungen um uns werfen (wie etwa dem neuesten Management-Framework oder einer Restrukturierung). Stattdessen könnten wir folgende systemische Fragen stellen:
- Welche Funktion erfüllt die bestehende Komplexität im System? Wem nutzt sie, wem schadet sie?
- Inwiefern könnte die beklagte Ineffizienz tatsächlich ein Stabilisierungsmechanismus sein? Was würde passieren, wenn wir sie einfach beseitigen würden?
- Wie reagiert das System auf bisherige Versuche, die Komplexität zu reduzieren? Wo zeigt sich Widerstand, und was sagt uns das über tieferliegende Dynamiken?
- In welchem historischen Kontext sind die komplexen Strukturen entstanden? Welche (möglicherweise nicht mehr aktuelle) Probleme sollten sie ursprünglich lösen?
- Welche unausgesprochenen Ängste könnten mit einer Vereinfachung der Organisation verbunden sein?
- Inwiefern sind Komplexität und Ineffizienz vielleicht sogar notwendig für bestimmte Arten von Innovation oder Reflexion?
- Wie könnten wir zwischen „notwendiger“ und „überflüssiger“ Komplexität unterscheiden? Und wer sollte diese Unterscheidung treffen dürfen?
Die Herausforderung: Komplexität als Informationsträger
Ein weiterer Aspekt, den ich aus systemtheoretischer Sicht für bedenkenswert halte: Komplexität trägt Informationen. Wenn ein Prozess über die Jahre immer komplizierter geworden ist, mit zahlreichen Ausnahmen, Spezialfällen und ungeschriebenen Regeln, dann steckt darin eine Geschichte – und möglicherweise wichtiges implizites Wissen.
Ich erinnere mich an ein Telekommunikationsunternehmen, das seinen „veralteten“ Kundenserviceprozess radikal vereinfachen wollte. Was auf dem Papier brillant aussah, führte in der Praxis zu Chaos, weil all die kleinen, informellen Ausnahmeregeln, die über Jahre entstanden waren, plötzlich verschwanden. Der „ineffiziente“ alte Prozess hatte implizites Wissen enthalten, das erst durch sein Fehlen sichtbar wurde.
Ein systemisches Gedankenexperiment
Stellen Sie sich vor, Komplexität wäre kein Problem, sondern ein Symptom – ein Fieber, das anzeigt, dass im Organismus „Organisation“ etwas nicht stimmt. Was wäre, wenn wir nur das Fieber senken (die Komplexität reduzieren), ohne die zugrundeliegende Ursache zu verstehen?
Oder anders gefragt: Was wäre, wenn die zunehmende Komplexität ein notwendiger Evolutionsschritt ist, den Organisationen durchlaufen müssen, bevor sie eine neue, höhere Form der Einfachheit erreichen können? Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?
Die drei systemischen Reflexionsfragen für Führungskräfte
Wenn Sie als Führungskraft mit dem Thema Komplexität konfrontiert sind, empfehle ich Ihnen, täglich folgende drei Fragen zu reflektieren:
- Welche Funktion erfüllt die von mir wahrgenommene Komplexität für das Gesamtsystem meiner Organisation?
- Inwiefern bin ich selbst – möglicherweise unbewusst – an der Aufrechterhaltung komplexer Strukturen beteiligt?
- Wie könnte ich meine Perspektive auf „Ineffizienz“ verändern, wenn ich sie als Informationsquelle über mein System betrachte?
Zum Nachdenken: Die Paradoxie der Komplexitätsreduktion
Ich schließe mit einem paradoxen Gedanken: Vielleicht liegt der Schlüssel zum Umgang mit organisationaler Komplexität nicht in ihrer direkten Bekämpfung, sondern im tieferen Verständnis ihrer systemischen Funktion. Vielleicht müssen wir, um Komplexität zu reduzieren, sie zunächst vollständig akzeptieren und verstehen.
Was meinen Sie dazu? Ist die wachsende Komplexität in Organisationen wirklich nur ein Problem, das es zu lösen gilt? Oder könnte sie uns etwas Wichtiges über die Natur unserer Organisationen verraten, das wir bisher übersehen haben?
