Nachhaltigkeit im Unternehmen: Eine systemtheoretische Betrachtung mit konkreten Handlungsimpulsen

Was wir wirklich meinen, wenn wir von Nachhaltigkeit sprechen

Wenn ich über Nachhaltigkeit nachdenke, komme ich immer wieder zu den Wurzeln des Begriffs zurück – dieser Idee des „nachhaltenden“ Wirtschaftens, die bereits 1713 von Hans Carl von Carlowitz geprägt wurde. Damals ging es um die Frage, wie man Wälder so bewirtschaften kann, dass sie eine „continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung“ ermöglichen. Ich finde es faszinierend, dass dieser Grundgedanke eigentlich noch älter ist und sich bis ins römische Recht zurückverfolgen lässt, wo das Konzept des Nießbrauchs bereits forderte, dass die Substanz einer Sache bei ihrer Nutzung erhalten bleiben soll.

Heute sprechen wir von drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – der ökologischen, sozialen und ökonomischen. Manchmal vergessen wir jedoch in der betriebswirtschaftlichen Praxis, dass diese Dimensionen in einem systemischen Zusammenhang stehen und nicht isoliert betrachtet werden können. Ich beobachte in meiner Arbeit mit Unternehmen immer wieder, wie diese Verbindungen übersehen werden, was letztendlich zu Entscheidungen führt, die zwar kurzfristig ökonomisch sinnvoll erscheinen, langfristig aber dem Gesamtsystem schaden.

Der systemtheoretische Blick: Organisationen als lebendige Systeme

Aus systemtheoretischer Perspektive sind Unternehmen keine trivialen Maschinen, sondern lebendige, nicht-triviale Systeme. Was bedeutet das konkret? Während eine Maschine auf einen bestimmten Input immer mit dem gleichen Output reagiert, hängt die Reaktion eines lebendigen Systems von seiner inneren Struktur, seiner Geschichte und seinem aktuellen Zustand ab. In meinen Beratungsprojekten erlebe ich häufig, wie Führungskräfte frustriert sind, wenn ihre Anweisungen nicht wie erwartet umgesetzt werden – „Ich habe doch klar kommuniziert, warum wird das nicht einfach gemacht?“ Die Antwort liegt in der Natur lebendiger Systeme: Mitarbeiter müssen mit Anweisungen einverstanden sein, damit diese befolgt werden. Ihr Verhalten ist eine Funktion ihres eigenen Willens, ihrer Individualität und der Umwelt, in der sie agieren.

Diese Erkenntnis verändert fundamental, wie wir über Nachhaltigkeit in Organisationen nachdenken sollten. Es geht nicht darum, Nachhaltigkeitsmaßnahmen einfach anzuordnen und zu erwarten, dass sie umgesetzt werden. Vielmehr müssen wir verstehen, wie wir die Bedingungen schaffen können, unter denen nachhaltige Entscheidungen und Verhaltensweisen entstehen können.

Individualpsychologie trifft auf Organisationstheorie

Hier kommt Alfred Adlers Individualpsychologie ins Spiel, die sich wunderbar mit der Systemtheorie verbinden lässt. Adler betonte die Einzigartigkeit des Individuums und sein Streben nach Gemeinschaftsgefühl. In der Arbeitswelt bedeutet dies, dass Menschen nicht nur als Mittel zum Zweck gesehen werden dürfen, sondern als eigenständige Wesen mit eigenen Zielen und Bedürfnissen.

Ich habe in meiner Arbeit oft beobachtet, wie Unternehmen, die ausschließlich auf Wachstum und Rendite ausgerichtet sind und den Menschen als reines Produktionsmittel betrachten, langfristig scheitern. Sie entwickeln ein fehlendes Gemeinschaftsgefühl und Verantwortungsbewusstsein gegenüber Umwelt und Gesellschaft, was häufig zu Krisen und unnachhaltigem Verhalten führt. Man könnte sagen, sie treten den Begriff der Nachhaltigkeit mit Füßen.

Die kybernetische Perspektive: Feedback-Schleifen und Selbstregulation

Ein zentrales Konzept der Kybernetik sind Feedback-Schleifen, die es Systemen ermöglichen, sich selbst zu regulieren. In meiner Praxis habe ich festgestellt, dass Unternehmen, die solche Feedback-Mechanismen für Nachhaltigkeitsthemen etablieren, deutlich erfolgreicher darin sind, nachhaltige Praktiken zu implementieren und aufrechtzuerhalten.

Konkret bedeutet das: Wie schaffen wir Strukturen, in denen nicht-nachhaltiges Verhalten schnell erkannt und korrigiert wird? Wie etablieren wir Kommunikationskanäle, durch die Feedback von allen Ebenen – Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten und der breiteren Gesellschaft – gehört und ernst genommen wird?

Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis: Ein mittelständisches Produktionsunternehmen hat monatliche „Nachhaltigkeitszirkel“ eingeführt, in denen Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen zusammenkommen, um aktuelle Prozesse zu reflektieren und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Diese regelmäßigen Feedback-Schleifen haben nicht nur zu konkreten Einsparungen bei Energie und Materialverbrauch geführt, sondern auch das Bewusstsein für Nachhaltigkeit in der gesamten Organisation gestärkt.

Systemisches Denken als Schlüsselkompetenz

Der europäische Kompetenzrahmen für Nachhaltigkeit (GreenComp) identifiziert systemorientiertes Denken als eine zentrale Kompetenz für Nachhaltigkeit. Dies umfasst die Fähigkeit zum systemischen Denken, kritischen Denken und zur Problemformulierung.

Was bedeutet systemisches Denken konkret im betriebswirtschaftlichen Kontext? Es geht darum:

  • Elemente, Grenzen und Subsysteme eines Systems zu erkennen
  • Wechselwirkungen und Dynamiken zu verstehen
  • Systeme zu modellieren und Szenarien durchzuspielen
  • Rückkopplungen und nicht-lineare Effekte zu antizipieren

Ich habe festgestellt, dass Führungskräfte, die diese Fähigkeit entwickelt haben, deutlich besser in der Lage sind, nachhaltige Entscheidungen zu treffen, die langfristig auch ökonomisch sinnvoll sind.

Nachhaltigkeit braucht Gemeinschaftsgefühl und kritisches Denken

Die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls, wie Adler es beschrieb, ist ein wesentlicher Baustein für nachhaltige Organisationen. Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir alle Teil eines größeren Ganzen sind und unsere Handlungen Auswirkungen haben, die weit über uns selbst hinausreichen.

Gleichzeitig ist kritisches Denken unverzichtbar, um Nachhaltigkeitsdilemmata zu bewältigen. In meinen Workshops mit Führungsteams arbeiten wir oft mit Szenarien, in denen scheinbar widersprüchliche Ziele in Einklang gebracht werden müssen. Die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen, mögliche Konsequenzen verschiedener Handlungsoptionen zu antizipieren und fundierte Entscheidungen zu treffen, ist dabei entscheidend.

Soziale Normen als Hebel für Veränderung

Ein oft unterschätzter Faktor bei der Implementierung von Nachhaltigkeitsmaßnahmen ist die Macht sozialer Normen. Unser Verhalten wird stark davon beeinflusst, was andere Menschen tun – insbesondere jene, die wir kennen und schätzen, aber auch fremde Personen in unserem Umfeld.

Ich habe in vielen Organisationen gesehen, wie wirksam es sein kann, wenn Führungskräfte als Vorbilder für nachhaltiges Verhalten agieren. Wenn der CEO mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt oder die Abteilungsleiterin konsequent Mehrweggeschirr verwendet, hat das einen stärkeren Effekt als jede Richtlinie oder jedes Nachhaltigkeitsleitbild an der Wand.

Dabei ist es wichtig, zwischen Soll-Normen (was man tun sollte) und Ist-Normen (was tatsächlich getan wird) zu unterscheiden. Für eine nachhaltige Unternehmenskultur müssen beide in Einklang stehen – nichts ist schädlicher als Greenwashing oder leere Nachhaltigkeitsversprechen, denen keine Taten folgen.

Der konkrete Mehrwert für Unternehmen

Wenn ich mit Geschäftsführern und Vorständen über Nachhaltigkeit spreche, kommt früher oder später immer die Frage nach dem Return on Investment. Was ist der konkrete Nutzen einer systemischen, nachhaltigen Unternehmensführung?

Die Antwort lässt sich in mehreren Dimensionen fassen:

  1. Risikominimierung: Systemisches Denken hilft, Risiken frühzeitig zu erkennen und zu adressieren, bevor sie zu ernsthaften Problemen werden. Dies betrifft nicht nur Umweltrisiken, sondern auch Reputationsrisiken, regulatorische Risiken und Marktrisiken.
  2. Ressourceneffizienz: Nachhaltige Praktiken führen häufig zu einer effizienteren Nutzung von Ressourcen – sei es Energie, Material oder Zeit – was direkte Kosteneinsparungen bedeutet.
  3. Innovationskraft: Die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsherausforderungen fördert kreatives Denken und kann zu innovativen Produkten, Dienstleistungen und Prozessen führen.
  4. Attraktivität für Talente: Insbesondere jüngere Generationen legen großen Wert auf Nachhaltigkeit und wählen ihre Arbeitgeber entsprechend aus. Ein authentisches Engagement für Nachhaltigkeit kann ein entscheidender Faktor sein, um die besten Talente zu gewinnen und zu halten.
  5. Kundenbindung und -gewinnung: Immer mehr Kunden – sowohl im B2C- als auch im B2B-Bereich – bevorzugen Unternehmen, die nachhaltig agieren und Verantwortung übernehmen.
  6. Langfristige Wettbewerbsfähigkeit: In einer Welt, in der natürliche Ressourcen knapper werden, regulatorische Anforderungen steigen und Stakeholder zunehmend auf Nachhaltigkeit drängen, werden nachhaltig agierende Unternehmen langfristig im Vorteil sein.

Systemische Methoden für die Umsetzung

Die Theorie ist das eine, die praktische Umsetzung das andere. Ich habe in meiner Arbeit verschiedene systemische Methoden eingesetzt, um Nachhaltigkeitskompetenzen zu vermitteln und nachhaltige Veränderungen in Organisationen zu fördern.

Besonders wirksam sind Rich Pictures, bei denen komplexe Zusammenhänge durch intuitive visuelle Darstellungen erfasst werden. Bei einem Workshop mit einem Produktionsunternehmen erstellten wir eine großformatige Rich Picture zum Thema „Barrieren für Nachhaltigkeit“, auf der alle Stakeholder, Prozesse und Einflussfaktoren mit ihren Wechselwirkungen bildlich und symbolisch dargestellt wurden. Dabei wurde deutlich, dass zwischen der Nachhaltigkeitsabteilung und den operativen Bereichen kaum Verbindungslinien existierten – eine Erkenntnis, die zu einer grundlegenden Reorganisation und Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in alle Geschäftsbereiche führte.

Andere wirksame Methoden sind:

  • Systemische Interviews, die verschiedene Perspektiven offenlegen
  • Kollaborative Systemanalysen mit cross-funktionalen Teams
  • Szenario-Thinking-Workshops, die mögliche Zukünfte erkunden und Handlungsoptionen entwickeln
  • Causal-Loop-Diagramme, die Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen visualisieren
  • Systemische Moderationsmethoden für Meetings und Workshops

Konkrete Schritte zur Umsetzung

Für Unternehmen, die ihre Nachhaltigkeitsstrategie auf eine systemische Grundlage stellen möchten, empfehle ich folgende Schritte:

  1. Systemanalyse durchführen: Identifizieren Sie die relevanten Elemente, Grenzen und Subsysteme Ihres Unternehmens und seiner Umwelt. Untersuchen Sie Wechselwirkungen und Rückkopplungen zwischen diesen Elementen.
  2. Gemeinsames Verständnis entwickeln: Schaffen Sie einen Dialog über Nachhaltigkeit in Ihrem Unternehmen. Was bedeutet Nachhaltigkeit für verschiedene Stakeholder? Welche unterschiedlichen Vorstellungen existieren?
  3. Feedback-Mechanismen etablieren: Schaffen Sie Strukturen, die kontinuierliches Feedback zu Nachhaltigkeitsthemen ermöglichen – von Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten und anderen Stakeholdern.
  4. Gemeinschaftsgefühl fördern: Stärken Sie das Bewusstsein für die Verbundenheit aller Teile des Systems und die gemeinsame Verantwortung für nachhaltiges Handeln.
  5. Kompetenzen entwickeln: Fördern Sie systematisch systemisches und kritisches Denken bei Führungskräften und Mitarbeitern durch Training, Coaching und praxisnahe Anwendung.
  6. Soziale Normen gestalten: Arbeiten Sie aktiv an der Entwicklung einer Unternehmenskultur, in der nachhaltiges Verhalten die Norm ist und von Führungskräften vorgelebt wird.
  7. Systemische Integration: Integrieren Sie Nachhaltigkeitsaspekte in alle Geschäftsprozesse, anstatt sie als separaten Bereich zu behandeln.

Drei tägliche Habits für nachhaltigkeitsorientierte Führungskräfte

Zum Abschluss möchte ich drei konkrete tägliche Gewohnheiten vorschlagen, die Führungskräfte entwickeln können, um nachhaltiges Handeln in ihrem Verantwortungsbereich zu fördern:

1. Der systemische Perspektivwechsel (10 Minuten)

Nehmen Sie sich jeden Morgen zehn Minuten Zeit, um eine anstehende Entscheidung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Stellen Sie sich dabei folgende Fragen:

  • Wie wirkt sich diese Entscheidung auf verschiedene Stakeholder aus?
  • Welche kurz- und langfristigen Konsequenzen könnte sie haben?
  • Welche Wechselwirkungen mit anderen Bereichen sind zu erwarten?
  • Welche unbeabsichtigten Nebenwirkungen könnten auftreten?

Diese Übung schärft Ihr systemisches Denken und hilft, blinde Flecken zu identifizieren.

2. Der Nachhaltigkeits-Walk (15 Minuten)

Machen Sie täglich einen kurzen Rundgang durch Ihren Verantwortungsbereich mit dem spezifischen Fokus auf Nachhaltigkeit. Suchen Sie nach:

  • Ressourcenverschwendung (Energie, Material, Zeit)
  • Möglichkeiten für Prozessoptimierungen
  • Beispielen für bereits gelebte nachhaltige Praktiken
  • Gelegenheiten für Anerkennung und positive Verstärkung

Sprechen Sie mit Mitarbeitern über ihre Ideen und Beobachtungen. Diese Praxis macht Nachhaltigkeit sichtbar und zeigt Ihre persönliche Wertschätzung für das Thema.

3. Die Feedback-Frage (5 Minuten)

Stellen Sie in jedem Meeting oder Gespräch eine gezielte Frage zur Nachhaltigkeit, beispielsweise:

  • „Wie könnten wir diesen Prozess ressourcenschonender gestalten?“
  • „Welche langfristigen Auswirkungen hat diese Entscheidung?“
  • „Haben wir alle relevanten Stakeholder berücksichtigt?“

Diese einfache Intervention verankert Nachhaltigkeitsdenken in der täglichen Kommunikation und ermutigt alle Beteiligten, das Thema mitzudenken.

Fazit: Nachhaltigkeit als systemische Herausforderung und Chance

Nachhaltigkeit im betriebswirtschaftlichen Kontext ist keine isolierte Aufgabe, die an eine Nachhaltigkeitsabteilung delegiert werden kann. Sie erfordert systemisches Denken, die Förderung von Gemeinschaftsgefühl und kritischem Denken sowie die aktive Gestaltung sozialer Normen.

Die gute Nachricht ist: Unternehmen, die diese Herausforderung annehmen, profitieren nicht nur durch Risikominimierung und Ressourceneffizienz, sondern schaffen auch die Grundlage für langfristige Wettbewerbsfähigkeit in einer Welt, die zunehmend auf nachhaltige Lösungen angewiesen ist.

Ich bin überzeugt, dass die Integration von systemtheoretischen und individualpsychologischen Ansätzen einen wertvollen Beitrag leisten kann, um Unternehmen auf ihrem Weg zu mehr Nachhaltigkeit zu unterstützen. Die drei vorgestellten täglichen Habits sind ein erster Schritt, den jede Führungskraft heute noch gehen kann – für eine nachhaltigere Zukunft unserer Organisationen und unserer Welt.

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