Ein systemtheoretischer Blick auf die Wechselwirkung zwischen institutioneller Dummheit und kritischem Denkvermögen in modernen Organisationen
Die Kollektivierung von Dummheit in Organisationen: Ein unterschätztes Phänomen
Wenn ich mich mit den Herausforderungen beschäftige, denen sich moderne Organisationen gegenübersehen, kommt mir oft eine bemerkenswerte Beobachtung in den Sinn: Wie können Unternehmen, die mit hochqualifizierten Fachkräften besetzt sind, trotzdem Entscheidungen treffen, die aus einer Distanz betrachtet offensichtlich kontraproduktiv erscheinen? Diese Frage hat mich zur intensiven Auseinandersetzung mit der „Theorie der Dummheit“ geführt – einem faszinierenden Konzept, das sich perfekt mit systemischer Organisationsentwicklung verbinden lässt.
Dietrich Bonhoeffer argumentierte bereits in seinen Gefängnisbriefen, dass Dummheit „ein gefährlicherer Feind des Guten sei als Bosheit“. Ein Gedanke, der mich immer wieder beschäftigt, denn während wir uns gegen böswillige Absichten wehren können, sind wir gegenüber Dummheit oft machtlos. Besonders bemerkenswert finde ich seine Beobachtung, dass Dummheit „weniger ein psychologisches als vielmehr ein soziologisches Problem“ sei – und genau hier wird es für Organisationen relevant.
Stellen Sie sich vor: Ein starker Machtaufschwung in einem Unternehmen – sei es durch eine autoritäre Führungskraft oder eine rigide Hierarchie – kann laut Bonhoeffer einen großen Teil der Menschen mit „Dummheit infizieren“. Diese Menschen verlieren ihre innere Unabhängigkeit und geben ihre autonome Position auf. Im Gespräch mit ihnen entsteht der Eindruck, nicht mit ihnen als Personen zu tun zu haben, sondern mit „Slogans und Schlagworten, die sie in Besitz genommen haben“.
Klingt das nicht erschreckend vertraut? Ich denke dabei an zahlreiche Meetings, in denen Buzzwords die echte Kommunikation ersetzten und niemand die zugrundeliegenden Annahmen hinterfragte.
Cipollas ökonomische Perspektive: Der verborgene Preis organisationaler Dummheit
Aus meiner Erfahrung lässt sich dieses Phänomen besonders gut mit Carlo M. Cipollas Kategorisierung ergänzen, der Dummheit als „Handlungen, die anderen Schaden zufügen, ohne persönlichen Gewinn“ definiert. In meiner Beratungspraxis erlebe ich regelmäßig, wie diese institutionalisierte Form der Dummheit organisationales Handeln prägt: Projekte werden vorangetrieben, die niemanden wirklich nutzen, aber hohe Kosten verursachen; Prozesse werden aufrechterhalten, nur weil „wir das schon immer so gemacht haben“; und Ressourcen fließen in Initiativen, deren einziger Zweck die Selbsterhaltung zu sein scheint.
Betrachten wir die von Cipolla formulierten „Fünf Grundlegenden Gesetze der Menschlichen Dummheit“ im Kontext von Organisationen:
- Jeder unterschätzt immer und unvermeidlich die Anzahl der dummen Individuen im Umlauf. In Organisationskontext: Führungskräfte unterschätzen systematisch die Verbreitung von kontraproduktivem, unreflektiertem Verhalten in ihren Teams.
- Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person dumm ist, ist unabhängig von jeder anderen Eigenschaft dieser Person. In Organisationskontext: Bildung, Intelligenz oder Erfahrung schützen nicht vor organisationaler Dummheit – sie können in hierarchischen Strukturen sogar verstärkt werden.
- Eine dumme Person ist eine Person, die einer anderen Person oder einer Gruppe von Personen Verluste zufügt, während sie selbst keinen Gewinn erzielt und möglicherweise sogar Verluste erleidet. In Organisationskontext: Entscheidungen, die weder dem Unternehmen noch den Mitarbeitern oder Kunden nutzen, aber Ressourcen verschwenden.
- Nicht-dumme Menschen unterschätzen immer die schädliche Kraft dummer Individuen. In Organisationskontext: Die negativen Auswirkungen unreflektierter Prozesse und Entscheidungen werden in ihrer langfristigen Wirkung unterschätzt.
- Eine dumme Person ist die gefährlichste Art von Person. In Organisationskontext: Unreflektiertes Handeln kann mehr Schaden anrichten als bewusste Sabotage, da es schwerer zu erkennen und zu bekämpfen ist.
Wenn ich an meine Zusammenarbeit mit verschiedenen Unternehmen zurückdenke, wird mir klar, wie oft diese „Gesetze“ zum Tragen kamen, ohne dass sich die Beteiligten dessen bewusst waren. Besonders faszinierend (und manchmal erschreckend) finde ich dabei, dass organisationale Dummheit nicht an mangelnde intellektuelle Fähigkeiten gebunden ist – ich habe brillante Fachkräfte erlebt, die in organisationalen Kontexten dennoch „dumm“ handelten, weil sie ihre kritischen Denkfähigkeiten an der Unternehmenspforte abgaben.
Kritisches Denken: Das Gegenmittel zur organisationalen Dummheit
Die entscheidende Frage für die systemische Organisationsentwicklung lautet: Wie können wir dieser kollektiven Dummheit entgegenwirken? Hier kommt das kritische Denken ins Spiel, das ich als das wirksamste Gegenmittel gegen institutionalisierte Dummheit betrachte.
Kritisches Denken im Unternehmenskontext kann als „ein aktiver, reflexiver und bewertender Denkprozess definiert werden, der darauf abzielt, Informationen und Situationen objektiv zu analysieren, Annahmen zu hinterfragen, verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen und fundierte Urteile und Entscheidungen zu treffen.“ Es geht also genau um die Wiederherstellung jener „inneren Unabhängigkeit“, deren Verlust Bonhoeffer als Kern der Dummheit identifiziert hat.
Aus meiner Erfahrung mit Führungsteams ergeben sich mehrere zentrale Ansatzpunkte, um kritisches Denken als Gegenmittel zur organisationalen Dummheit zu etablieren:
1. Machtdynamiken bewusst gestalten
Da organisationale Dummheit laut Bonhoeffer eng mit Machtdynamiken verknüpft ist, müssen wir als Organisationsentwickler genau hier ansetzen. Ich habe festgestellt (und dies deckt sich mit aktueller Forschung), dass flachere Hierarchien, demokratischere Entscheidungsprozesse und eine Kultur des psychologischen Sicherheitsraums den Nährboden für kritisches Denken schaffen. Wenn Menschen keine Angst vor Machtverlust oder Repressalien haben müssen, behalten sie ihre intellektuelle Autonomie bei.
2. Eine fragende Haltung kultivieren
In meiner Beratungspraxis beginne ich oft mit einer einfachen Regel für Meetings: Jede Behauptung, die mit „Das haben wir schon immer so gemacht“ oder „Das ist branchenüblich“ beginnt, muss unmittelbar hinterfragt werden. Diese kleinen Interventionen setzen langsam aber sicher ein Umdenken in Gang. Mit der Zeit beobachte ich, wie Teams von selbst beginnen, zugrundeliegende Annahmen zu hinterfragen und alternative Perspektiven einzubringen.
3. Systematische Fehlerkultur etablieren
Die Angst vor Fehlern ist ein Haupttreiber organisationaler Dummheit. Ich ermutige Unternehmen, einen systematischen Umgang mit Fehlern zu entwickeln – nicht nur als leere Phrase, sondern durch konkrete Praktiken wie no-blame Post-Mortems, Lessons-Learned-Sessionen und die Würdigung des Muts, etablierte Vorgehensweisen infrage zu stellen, auch wenn sich diese später als richtig erweisen sollten.
4. Diversität als Ressource für kritisches Denken nutzen
Wenn wir Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Erfahrungen und Denkweisen zusammenbringen, erschwert dies die Bildung von unhinterfragten Konsensräumen, in denen organisationale Dummheit gedeihen kann. Ich habe in meiner Arbeit immer wieder beobachtet, wie diverse Teams widerstandsfähiger gegen kollektive Fehlschlüsse und blinde Flecken sind – vorausgesetzt, es existiert eine Kultur, in der abweichende Meinungen nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert werden.

Die drei täglichen Habits für Führungskräfte zur Überwindung organisationaler Dummheit
Aus meiner praktischen Beratungserfahrung haben sich drei tägliche Gewohnheiten herauskristallisiert, die Führungskräften helfen, kritisches Denken zu fördern und organisationale Dummheit zu reduzieren:
Habit 1: Der tägliche Annahmen-Check (10 Minuten)
Nehmen Sie sich jeden Morgen zehn Minuten Zeit, um eine zentrale Annahme zu identifizieren, die Ihre aktuelle Arbeit oder die Ihres Teams beeinflusst. Fragen Sie sich:
- Worauf basiert diese Annahme?
- Welche Evidenz spricht dafür oder dagegen?
- Welche alternativen Sichtweisen könnten genauso gültig sein?
Ich selbst übe diese Praxis seit Jahren und bin immer wieder überrascht, wie viele vermeintliche „Wahrheiten“ sich bei näherer Betrachtung als unbegründete Annahmen entpuppen. Dabei geht es nicht darum, alles in Frage zu stellen, sondern ein Bewusstsein für die unsichtbaren mentalen Modelle zu entwickeln, die unser Handeln lenken.
Habit 2: Die tägliche Perspektivenerweiterung (10 Minuten)
Identifizieren Sie täglich ein anstehendes Problem oder eine Entscheidung und nehmen Sie bewusst die Perspektive eines Stakeholders ein, dessen Sichtweise oft übersehen wird – sei es ein Kunde, ein Mitarbeiter aus einer anderen Abteilung oder jemand mit völlig anderem Hintergrund. Fragen Sie sich:
- Wie würde diese Person die Situation bewerten?
- Welche Aspekte würde sie als wichtig erachten, die ich vielleicht übersehe?
- Welche Lösung würde aus ihrer Sicht am sinnvollsten erscheinen?
Diese Übung durchbricht effektiv das von Bonhoeffer beschriebene Problem, dass dumme Menschen „sich selbst in Besitz von Slogans und Schlagworten“ befinden, indem sie aktiv verschiedene Denkrahmen fördert.
Habit 3: Die tägliche Evidenz-Prüfung (10 Minuten)
Wählen Sie eine wichtige Entscheidung oder Überzeugung aus Ihrem Arbeitsalltag und prüfen Sie kritisch die Evidenzbasis:
- Auf welche Daten oder Erfahrungen stützt sich diese Entscheidung?
- Wie verlässlich sind diese Quellen?
- Welche widersprüchlichen Daten oder Erfahrungen werden möglicherweise ignoriert?
- Welche Arten von Beweisen würden mich dazu bringen, meine Meinung zu ändern?
Diese Praxis schärft den Blick für Bestätigungsfehler und fördert eine evidenzbasierte Entscheidungskultur, die immun gegen das von Cipolla beschriebene irrationale Verhalten macht, das anderen und einem selbst schadet.
Die systematische Integration kritischen Denkens in die Organisationsentwicklung
Wenn ich systemisch denke, wird mir klar, dass die Überwindung organisationaler Dummheit keine Frage individueller Interventionen sein kann. Es reicht nicht aus, einzelne Führungskräfte fortzubilden oder isolierte Workshops anzubieten. Vielmehr müssen wir kritisches Denken als fundamentalen Wert in der Organisationskultur verankern und in allen Prozessen, Strukturen und Praktiken reflektieren.
Aus meiner Sicht, die auf langjähriger Praxiserfahrung basiert, umfasst ein systematischer Ansatz folgende Elemente:
- Integration in Governance-Strukturen: Kritisches Denken muss in Entscheidungsprozessen institutionalisiert werden, etwa durch formalisierte „Red Teams“ oder „Devil’s Advocates“, die explizit die Aufgabe haben, Mainstream-Annahmen zu hinterfragen.
- Verankerung in Personalentwicklung: Kritisches Denken sollte als Kernkompetenz in Einstellungs-, Beförderungs- und Entwicklungsprozessen verankert werden, wobei besonders Führungskräfte danach ausgewählt werden sollten, ob sie kritisches Denken bei anderen fördern können.
- Anpassung von Anreizsystemen: Solange Konformität belohnt und kritisches Hinterfragen bestraft wird (sei es auch nur implizit), wird organisationale Dummheit florieren. Wir müssen Belohnungssysteme schaffen, die den Mut zum kritischen Denken honorieren.
- Implementierung von Reflexionsräumen: Organisationen brauchen dedizierte Zeiten und Räume für Reflexion – nicht als Luxus, sondern als notwendigen Bestandteil der Arbeit. Ohne bewusste Reflexion ist kritisches Denken kaum möglich.
Fazit: Die Symbiose von kritischem Denken und systemischer Organisationsentwicklung
Was ich in meiner Arbeit immer wieder feststelle: Die Überwindung organisationaler Dummheit durch kritisches Denken ist kein Selbstzweck, sondern ein entscheidender Wettbewerbsvorteil in einer zunehmend komplexen und volatilen Geschäftswelt. Unternehmen, die eine Kultur des kritischen Denkens etablieren, treffen bessere Entscheidungen, reagieren flexibler auf Veränderungen, vermeiden kostspielige Fehler und schaffen ein attraktiveres Arbeitsumfeld für talentierte Mitarbeiter.
Die systemische Organisationsentwicklung bietet hier den idealen Rahmen, da sie die Wechselwirkungen zwischen Individuum, Team, Organisation und Umwelt in den Blick nimmt. Nur durch diesen ganzheitlichen Ansatz können wir die tiefgreifenden, oft unsichtbaren Muster durchbrechen, die organisationale Dummheit perpetuieren.
Dabei bleibt die zentrale Einsicht Bonhoeffers relevant: Dummheit wird nicht primär durch Belehrung überwunden, sondern durch Befreiung – die Befreiung von rigiden Machtstrukturen, von Konformitätsdruck und von der Angst, die eigene Stimme zu erheben. Kritisches Denken ist der Weg zu dieser Befreiung und damit zu einer Organisation, die nicht nur effektiver, sondern auch menschlicher ist.
Abschließend möchte ich betonen: Die Förderung kritischen Denkens in Organisationen ist keine akademische Übung, sondern eine pragmatische Notwendigkeit. In einer Zeit, in der Fehlinformationen, Komplexität und Unsicherheit zunehmen, kann es sich kein Unternehmen leisten, das kollektive Denkvermögen seiner Mitarbeiter ungenutzt zu lassen. Die bewusste Überwindung organisationaler Dummheit durch kritisches Denken ist vielleicht die wichtigste Führungsaufgabe unserer Zeit.
Relevante Quellen:
Bonhoeffer, D. (1951). Widerstand und Ergebung: Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Chr. Kaiser Verlag.
Cipolla, C. M. (1976/2011). The Basic Laws of Human Stupidity. Il Mulino / Penguin Books.
Elder, L., & Paul, R. (2020). Critical Thinking: Tools for Taking Charge of Your Learning and Your Life. Foundation for Critical Thinking.
Edmondson, A. C. (2018). The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth. Wiley.
Kahneman, D. (2011). Thinking, Fast and Slow. Farrar, Straus and Giroux.
Meadows, D. H. (2008). Thinking in Systems: A Primer. Chelsea Green Publishing.
Senge, P. M. (2006). The Fifth Discipline: The Art & Practice of The Learning Organization. Doubleday.
Taleb, N. N. (2012). Antifragile: Things That Gain from Disorder. Random House.