Mini-Gewohnheiten statt Ziele: Ein systemischer Ansatz für nachhaltige Unternehmensentwicklung

In der heutigen VUCA-Welt (volatil, unsicher, komplex, ambivalent) stellen wir uns immer wieder die Frage, warum gut durchdachte Unternehmensziele oft nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. Nach 20 Jahren Erfahrung in verschiedensten Organisationen bin ich zu einer vielleicht überraschenden Erkenntnis gekommen: Ziele können mehr schaden als nutzen.

Die Problematik traditioneller Zielsetzungen

Wenn ich mit Führungskräften arbeite, beobachte ich regelmäßig folgende Phänomene, die auch im bereitgestellten Text hervorgehoben werden:

  1. Kontrollillusion: Wir setzen Ziele, als hätten wir vollständige Kontrolle über den Ausgang, ignorieren dabei aber externe Einflussfaktoren und die Handlungsspielräume anderer Akteure im System.
  2. Informationsdefizit bei der Zielsetzung: Zu dem Zeitpunkt, an dem wir Ziele definieren, fehlen uns oft entscheidende Informationen, die erst im Prozess selbst entstehen.
  3. Referenzpunktsetzung mit negativem Bias: Psychologisch programmieren wir unser Gehirn auf einen Referenzpunkt, der immer eine negative Abweichung zum Ist-Zustand darstellt. Dies führt zu einem permanenten Defizitgefühl, das die bereits erreichten Fortschritte überschattet.
  4. Mangelnde Operationalisierung: Große Ziele sagen uns wenig darüber, was konkret am nächsten Tag zu tun ist, was zu Überforderung und dem bekannten „Jojo-Effekt“ führt.

Der systemische Alternativansatz: Mini-Gewohnheiten

Ich komme aus der Praxis und habe erlebt, dass der im Text zitierte Ansatz (ursprünglich von Scott Adams) tatsächlich funktioniert: „Ziele sind für Loser, Systeme sind für Gewinner.“ Wenn wir das systemisch betrachten, geht es nicht um das „Was“ (das Ziel), sondern um das „Wie“ (die täglichen Routinen).

Das Konzept der Mini-Gewohnheiten lässt sich hervorragend in Unternehmen implementieren:

Praktische Umsetzung im Unternehmenskontext:

  1. Identifikation von Mikroaktionen: Anstatt zu sagen „Wir wollen unseren Umsatz um 20% steigern“, definieren Sie Mikroaktionen wie „Jeden Tag 10 Minuten Kundenfeedback analysieren“ oder „Eine zusätzliche Verkaufsanfrage pro Tag stellen“.
  2. Systematische Integration in den Arbeitsalltag: Ich habe mit Teams gearbeitet, die täglich nur 15 Minuten für Innovationsideen reservierten – der Effekt war verblüffend, denn aus diesen kleinen Sessions entstanden völlig neue Geschäftsmodelle, die bei einer reinen Zielorientierung („Wir brauchen 3 neue Produkte bis Jahresende“) nie entstanden wären.
  3. Psychologische Entlastung des Teams: Die Mini-Aktivität muss so lächerlich klein sein, dass sie garantiert machbar ist. Ich nenne es mal so: Wenn Ihr Team lächelt oder sogar lacht, wenn Sie die Mini-Gewohnheit vorstellen („Nur ein Kundenanruf?“), haben Sie die richtige Größenordnung gefunden.
  4. Aufbau intrinsischer Motivation: Da müssen wir differenzieren: Es geht nicht darum, sich zu überlisten und heimlich doch mehr zu machen. Der entscheidende Punkt ist, dass nach Erfüllung der Miniaufgabe die intrinsische Motivation oft von selbst zum Weitermachen anregt – man ist „im Flow“.
  5. Dokumentation und Reflexion: Lassen Sie uns das mal konkret anschauen – ein Team, das täglich nur 10 Minuten investiert, um Lernerfahrungen zu dokumentieren, baut über Monate ein wertvolles Wissensrepositorium auf, ohne den Druck eines großen „Wissensmanagement-Projekts“.

Mehrwert für Unternehmen

Aus der Erfahrung heraus kann ich sagen, dass dieser Ansatz mehrere konkrete Vorteile bietet:

  1. Resilienz gegen Planungsfehler: In einer zunehmend komplexen Welt hilft das System der Mini-Gewohnheiten, flexibel auf Veränderungen zu reagieren, ohne dass ein ganzes Zielsystem kollabiert.
  2. Nachhaltige Verhaltensänderung: Während 70% aller Change-Projekte scheitern (oft wegen zu ambitionierter Ziele), schaffen Mini-Gewohnheiten eine nachhaltige Verhaltensänderung durch Habituation.
  3. Reduzierung von Ressourcenverschwendung: Wenn wir das systemisch betrachten, sehen wir, dass das Verfolgen unrealistischer Ziele enorme Ressourcen verschlingt – von Mitarbeitermotivation bis hin zu Kapital für fehlgeschlagene Großprojekte.
  4. Kontinuierliche Verbesserung statt Ziel-Jojo: Anstelle von intensiven Anstrengungsphasen gefolgt von Erschöpfung etabliert dieser Ansatz einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (ähnlich dem Kaizen-Prinzip).
  5. Positive Fehlerkultur: Das funktioniert in der Praxis so, dass der Fokus nicht auf dem „großen Scheitern“ eines verfehlten Ziels liegt, sondern auf den täglichen kleinen Lernschritten.

Ein konkretes Implementierungsbeispiel

Lassen Sie mich ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis teilen:

Ein mittelständisches Produktionsunternehmen wollte seine Innovationskraft stärken – traditionell hätte man hier ein Ziel wie „5 neue Produkte binnen 18 Monaten“ gesetzt. Stattdessen haben wir folgendes Mini-Gewohnheiten-System etabliert:

  1. Für Führungskräfte: Täglich 10 Minuten mit einem Mitarbeiter über dessen Verbesserungsideen sprechen
  2. Für Fachexperten: Wöchentlich einen 30-minütigen Blick in eine fachfremde Branche werfen
  3. Für alle Mitarbeiter: Die Möglichkeit, täglich eine 5-Minuten-Idee in ein digitales Tool einzutragen

Nach sechs Monaten hatte das Unternehmen nicht nur die ursprünglich angestrebten Produktinnovationen erreicht, sondern zudem mehrere Prozessverbesserungen entdeckt, die Kostenvorteile im sechsstelligen Bereich brachten – und das, ohne den typischen Druck und die Frustration eines rigiden Innovationsziels.

Fazit: Von der Zielfixierung zur Systementwicklung

Ja, es klingt paradox (und ich habe selbst Jahre gebraucht, um das zu akzeptieren): Indem wir den Fokus von den großen Zielen nehmen und stattdessen auf kleine, tägliche Systeme legen, erreichen wir oft mehr als mit ambitionierten Zielvorgaben.

Das bedeutet nicht, richtungslos zu agieren – im Gegenteil. Es geht darum, eine grundsätzliche Richtung zu definieren und dann durch Mini-Gewohnheiten kontinuierlich in diese Richtung zu gehen, dabei aber offen zu bleiben für Entdeckungen am Wegesrand, die oft wertvoller sind als das ursprünglich gedachte Ziel.

Wenn Sie das systemisch betrachten, werden Sie feststellen: Die Unternehmenskultur verändert sich von einer ergebnisorientierten zu einer prozessorientierten Organisation – und paradoxerweise führt genau das zu besseren Ergebnissen.


Wie sind Ihre Erfahrungen mit Zielsetzungen in Ihrem Unternehmen? Haben Sie bereits mit alternativen Ansätzen experimentiert? Ich freue mich auf Ihre Gedanken und Erfahrungen in den Kommentaren!


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