Ich komme aus der Praxis und sehe immer wieder, wie Unternehmen mit zunehmender Komplexität kämpfen. Da ist es schon fast ironisch, dass eines der leistungsfähigsten Modelle zur Organisationsgestaltung – das Viable System Model (VSM) – in deutschsprachigen Managementkreisen noch relativ unbekannt ist. Wenn wir das systemisch betrachten, liegt darin eine enorme ungenutzte Chance.
Was ist das VSM und warum sollte es Sie interessieren?
Das von Stafford Beer entwickelte Viable System Model ist kein starres Organisationsdiagramm, sondern ein dynamisches Konzept, das Organisationen hilft, in komplexen und sich schnell verändernden Umgebungen lebensfähig (viable) zu bleiben.
Aus der Erfahrung heraus kann ich sagen: Viele der typischen Organisationsprobleme – von Silodenken über Micromanagement bis hin zu strategischer Kurzsichtigkeit – lassen sich mit dem VSM nicht nur erklären, sondern auch lösen. Der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Ansätzen? Das VSM betrachtet eine Organisation als lebendes System, nicht als Maschine.
Die fünf Systeme des VSM: Ihr Navigationskompass
Das VSM besteht aus fünf miteinander verbundenen Systemen, die ich mal so beschreiben würde:
- System 1 – Operation: Die produktiven Einheiten, die den eigentlichen Zweck des Unternehmens erfüllen (etwa Produktionsabteilungen oder Serviceteams)
- System 2 – Koordination: Sorgt für reibungslose Abstimmung zwischen den operativen Einheiten durch Standards und Kommunikationskanäle
- System 3 – Operative Steuerung: Optimiert das Tagesgeschäft, überwacht Leistung und verteilt Ressourcen (typische mittlere Managementebene)
- System 4 – Strategisches Management: Richtet den Blick nach außen und in die Zukunft, erkennt Chancen und Bedrohungen frühzeitig
- System 5 – Normative Führung: Verkörpert die Identität und Werte des Unternehmens, trifft grundlegende Entscheidungen
Das Besondere daran? Diese Struktur wiederholt sich fraktal auf allen Organisationsebenen – vom einzelnen Team bis zum Gesamtunternehmen.
Fünf typische Organisationsprobleme und wie das VSM sie löst
Lassen Sie uns das mal konkret anschauen:
1. Fantasiewelt-Syndrom
Problem: Führungskräfte treffen Entscheidungen ohne fundierte Informationen aus dem operativen Geschäft oder dem Marktumfeld.
VSM-Lösung: Durch klare Feedback-Schleifen zwischen System 1 (Operation) und den Systemen 3, 4 und 5 werden Entscheidungen auf Basis realer Daten statt Wunschdenken getroffen.
2. Kontroll-Dilemma (Micromanagement)
Problem: Bei Veränderungen reagiert die Führung mit verstärkter Kontrolle und zusätzlichen Berichtspflichten, was operative Einheiten lähmt.
VSM-Lösung: Standardisierte Berichtswege und klare Autonomiebereiche für System 1 sorgen für Vertrauen und Handlungsfähigkeit trotz Komplexität.
3. Engpässe
Problem: Unkoordinierte Arbeitslasten führen zu Überlastung bestimmter Abteilungen bei gleichzeitiger Unterbeschäftigung anderer.
VSM-Lösung: Ein wirksames System 2 (Koordination) harmonisiert Arbeitsflüsse und verhindert den „Bullwhip-Effekt“.
4. Neuerfindung des Rades
Problem: Fehlende Standards führen dazu, dass gleiche Probleme mehrfach und unterschiedlich gelöst werden.
VSM-Lösung: Verbindliche Standards und Wissensaustausch durch System 2 und 3 ermöglichen organisationsweites Lernen.
5. Bunker-Mentalität
Problem: Bei Krisen kapseln sich Abteilungen ab und verweigern Informationsaustausch.
VSM-Lösung: Eine durch System 5 verankerte Kultur der Transparenz und Zusammenarbeit schafft Resilienz in Krisenzeiten.
Der praktische Mehrwert für Ihr Unternehmen
Das ist diskutierbar, aber die Vorteile des VSM für Organisationen liegen auf der Hand:
- Balancierte Autonomie und Kontrolle: Operative Einheiten erhalten die nötige Freiheit für schnelle Reaktionen, während die strategische Ausrichtung gewahrt bleibt
- Erhöhte Anpassungsfähigkeit: Durch die frühzeitige Erkennung von Umweltveränderungen (System 4) kann das Unternehmen proaktiv statt reaktiv agieren
- Reduzierte Komplexität: Das VSM bietet einen klaren Rahmen für die Gestaltung von Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen
- Verbesserte Ressourcennutzung: Durch die optimale Verteilung von Verantwortung werden Doppelarbeit und Reibungsverluste minimiert
- Höhere Mitarbeiterzufriedenheit: Klare Zuständigkeiten und angemessene Autonomie fördern Engagement und Eigenverantwortung
Umsetzung in der Praxis – ein Fahrplan
Da müssen wir differenzieren, denn die Einführung des VSM ist kein Standardprojekt. Aus der Erfahrung heraus empfehle ich folgendes Vorgehen:
- Analyse der Ist-Situation:
- Bestehende Organisationsstrukturen evaluieren
- Interviews auf verschiedenen Hierarchieebenen führen
- Informationsflüsse und Entscheidungswege kartieren
- VSM-Modellierung:
- System im Fokus definieren (welche Organisationsebene)
- System-1-Einheiten identifizieren
- Umwelt und Komplexitätstreiber für jedes System 1 bestimmen
- Schrittweise Systeme 2-5 modellieren
- Diagnose der Schwachstellen:
- Fehlende oder überdimensionierte Systeme identifizieren
- Dysfunktionale Kommunikationskanäle aufdecken
- Probleme bei den fünf Varietätsbalancen erkennen
- Gestaltung der Zielorganisation:
- Notwendige Strukturanpassungen definieren
- Kommunikations- und Entscheidungsprozesse neu gestalten
- Rollen und Verantwortlichkeiten präzisieren
- Implementierung und Kulturwandel:
- Schrittweise Umsetzung mit begleitendem Change Management
- Entwicklung der erforderlichen Führungskompetenzen
- Regelmäßige Reflexion und Anpassung
Entscheidend ist dabei, das VSM nicht als Blaupause zu sehen, sondern als Denkmodell, das auf die spezifischen Bedürfnisse Ihres Unternehmens angepasst werden muss.
Fallbeispiel: Ein mittelständisches Produktionsunternehmen
Lassen Sie uns das mal konkret anschauen. Ein mittelständischer Maschinenbauer (250 Mitarbeiter) kämpfte mit langen Entscheidungswegen, unklaren Verantwortlichkeiten und mangelnder Innovationskraft.
Die VSM-Analyse offenbarte typische Probleme:
- Überlastetes System 3 (operatives Management) durch zu viele direkte Eingriffe ins Tagesgeschäft
- Fehlendes System 4 – niemand kümmerte sich systematisch um Zukunftstrends
- Schwache Koordinationsmechanismen (System 2) zwischen den Abteilungen
Nach der Reorganisation gemäß VSM-Prinzipien:
- Die Produktionsleiter erhielten mehr Autonomie und klare KPIs (Stärkung von System 1)
- Ein standardisiertes Reporting reduzierte Reibungsverluste (System 2)
- Ein dediziertes Innovationsteam wurde etabliert (System 4)
- Die Geschäftsführung konzentrierte sich auf langfristige Strategie statt Mikromanagement (System 5)
Das Ergebnis nach 12 Monaten: 18% höhere Produktivität, deutlich verkürzte Entscheidungswege und drei erfolgreiche Produktinnovationen.
Fazit: Der systemische Weg zur zukunftsfähigen Organisation
In einer Zeit exponentiell steigender Komplexität bietet das VSM einen bewährten Rahmen, um Organisationen widerstandsfähig und anpassungsfähig zu gestalten. Die Stärke liegt dabei in der Balance zwischen operativer Autonomie und strategischer Kohärenz.
Das funktioniert in der Praxis so, dass Unternehmen nicht mehr gegen die natürlichen Gesetze komplexer Systeme ankämpfen, sondern diese nutzen. Wie Stafford Beer es formulierte: „Der Zweck eines Systems ist das, was es tut.“ Mit dem VSM können Sie sicherstellen, dass Ihre Organisation tatsächlich das tut, was sie tun soll.
Aus meiner Sicht ist das VSM kein theoretisches Konstrukt, sondern ein praktisches Werkzeug, das in jeder Organisation – vom Startup bis zum Konzern – Anwendung finden kann. Die Frage ist nur: Sind Sie bereit, Ihre Organisation als lebendiges System zu betrachten?
